Des Königs viele Leiber.
Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts (1)
Gunther Teubner
Zusammenfassung: Der Beitrag verbindet zwei rechtssoziologische
Diskussionsstränge miteinander: (1) den empirischen Befund neuer
"spontaner" Rechtsbildungen im Rahmen der Globalisierung
des Rechts und (2) die Unterminierung der Normenhierarchie des Rechts
durch die neuere "dekonstruktive" Rechtstheorie. These
des Beitrags ist, daß die Rechtshierarchie älteren und neueren Dekonstruktionsversuchen
erfolgreich widerstanden hat und daß erst die Globalisierung des
Rechts die traditionelle Normenhierarchie politisch-staatlichen
Rechts dadurch wirksam zerstört, daß sie massenhaft Normen eines
globalen Rechts ohne Staat, eines selbstgeschaffenen Rechts der
Weltgesellschaft ohne nationalstaatliche oder völkerrechtliche Institutionalisierung
hervorbringt. Hieraus wird die Kritik an der dekonstruktiven Theorie
des Rechts entwickelt: diese nimmt die historischen Bedingungen
der Dekonstruktion von Rechtsinstitutionen nicht zur Kenntnis. Demgegenüber
käme es darauf an, die Dekonstruktion der Rechtshierarchie in dem
Sinne weiterzutreiben, daß nach neuen post-konstruktiven Differenzen
gesucht wird, die in der historischen Lage einer doppelt fragmentierten
Weltgesellschaft Plausibilität beanspruchen können. Der Beitrag
skizziert die Umrisse eines in dieser Situation sich abzeichnenden
"polykontexturalen Rechts".
I. Systemdekonstruktionen
Was bleibt vom Recht nach seiner Dekonstruktion durch die Rechtstheoretiker
der Postmoderne? Was bleibt von den Grundlagen des positiven Rechts,
von der Hierarchie der Rechtsnormen, von den verfassungsrechtlichen
Grundlagen, von der institutionalisierten Unterscheidung von Gesetzgebung
und Rechtsprechung, von demokratischer Legimation und Grundrechten?
Jacques Derrida, der sich inzwischen auch in dekonstruktiver Absicht
dem Recht genähert hat (Derrida
1990), läßt sich auf die folgende Definition seiner umstrittenen
Denktechnik ein:
En général la déconstruction se pratique selon deux voies ou deux
styles, que le plus souvent elle greffe l'un sur l'autre. L'un prend
l'allure démonstrative et apparemment non-historique de paradoxes
logico-formels. L'autre, plus historique ou plus anamnésique, semble
procéder par lectures de textes, interprétations minutieuses et
généalogies (Derrida
1990, 958).
In dieser doppelten Bewegung entlarvt das dekonstruktive Denken
die Geltungsgrundlagen des Rechts die Fundamente seiner Autorität,
als grandiose Paradoxien. Recht ist zirkulär nur auf sich selbst
gegründet, auf den willkürlichen Anfang einer gewalttätigen Unterscheidung,
auf die "fondation mystique de l'autorité". Und die sorgfältige
Genealogie rechtlicher Entscheidungsketten zerstört den Schein eines
stabilen, hierarchisch geordneten Normensystems und führt unmittelbar
in die Aporien des Rechts, in Situationen der Unentscheidbarkeit
mit ständig changierenden Differenzen in unterschiedlichen Kontexten.
In der dekonstruktiven Bewegung wird die Einheit des Recht zu einer
Un-einheit diskursiver Fragmente, die aber gleichzeitig von einem
"Gespenst" heimgesucht wird, dessen maßlose Forderungen
sie niemals erfüllen kann - dem Gespenst einer unersättlichen Gerechtigkeit.(2)
Ist demnach das dekonstruktivistische Rechtsprojekt das radikale
Gegenprogramm zur konstruktivistischen Theorie der Autopoiese des
Rechts? In der Tat, von dem absichtsvoll obskuren Sprachduktus der
Dekonstruktion hebt sich die Systemtheorie durch ihren Gestus der
Präzision methodisch wie inhaltlich deutlich ab. Während sich die
Dekonstruktion einer Definition ihres methodischen Vorgehens und
ihrer theoretischen Voraussetzungen beharrlich verweigert (Derrida
1988, 22), präsentiert sich die Rechtsautopoietik als eine ordnungsliebende
Theorie des Rechts, die Wert auf begriffliche Klarheit und systematisch
disziplinierte Ausarbeitung legt. Autonomie des Rechts, normative
Geschlossenheit, strukturelle Determinierung der Rechtsevolution,
dynamische Stabilität, normative Eigenwerte, binärer Code Recht/Unrecht,
regelgebundene Programme, reflexive Identität (Luhmann
1993b) - dies alles weist die Systemtheorie des Rechts als ein
solides Bollwerk gegen dekonstruktive, subversive Tendenzen der
Rechtskritik aus.
Doch der Eindruck täuscht. "Second order observation"
ist die systemtheoretische Parallele zur dekonstruktiven Zersetzung
des Rechts, zu seiner Auflösung in eine in sich widersprüchliche
Vielheit von Bedeutungen. In systemtheoretischer Analyse werden
traditionell als stabil vorausgesetzte Strukturen des Rechts in
eine Sturzflut von Differenzkaskaden aufgelöst, die gleichzeitig
als Subjekt und Objekt von ständig wechselnden rechtlichen Unterscheidungen
und Bezeichnungen fungieren. Second order observation zersetzt jede
fixierte Identität, jeden wohldefinierten ontologischen Status des
Rechts. Das Rechtssystem erscheint in systemtheoretischer Perspektive
als ein unendliches Spiel von normativen und kognitiven Differenzen,
als eine unüberschaubare, ständig variierende Dauertransformation
von Normen und Prinzipien, als eine Iteration von rekursiven Rechtsakten,
deren Wandlungen durch wechselnde Umwelten ausgelöst werden. Verschiedene
Umwelten des Rechts konstruieren je unterschiedliche Fiktionen des
Rechts, sei es als effektives Instrument politischer Steuerung,
als subtiles Disziplinierungsmittel kapillarer gesellschaftlicher
Mikro-Macht, als ausgleichender Vermittler in gesellschaftlichen
Konflikten, als effizienzsteigernder Mechanismus in unvollkommenen
Märkten, als Transaktionskosten senkendes Planungsinstrument privater
Akteure, als Machtbasis in formalen Organisationen oder als ethische
Grundlage einer Zivilgesellschaft. Chamäleongleich wandelt sich
die Identität des Rechts mit dem Wechsel der Beobachtungskontexte,
von denen keiner den Wahrheitsanspruch monopolisieren kann. Recht
ist überall gleich und doch verschieden. Wo also ist der Unterschied
zwischen autopoietischer Konstruktion und antimetaphysischer Dekonstruktion
des Rechts?
Die systemtheoretische Obsession mit Paradoxien macht den Unterschied
nur noch fragwürdiger. Die Normenhierarchie des Rechts, in der niederere
Normen von höheren Normen legitimiert werden bis hin zu den Normen
der Verfassung, die ihrerseits vom demokratischen Souverän legitimiert
sind, wird als grandiose Selbsttäuschung des Rechts sichtbar, mit
deren Hilfe die Paradoxien des Rechts verborgen werden. Ebensowenig
werden die Souveränitätsansprüche von "Law's Empire"
akzeptiert, die für Rechtsfragen über das hierarchische Verhältnis
von Normen und Prinzipien des Rechts die Möglichkeit der "one
right solution" behaupten (Dworkin
1986). In systemtheoretischer Sicht wird die Normenhierarchie
des Rechts zu einer "tangled hierarchy", wird die Geltung
des Rechts zu einer zirkulären Beziehung zwischen Rechtssetzung
und Rechtsanwendung. Normhierarchien erscheinen in ihrer Umkehrung
und ihrer Verschleifung, ähnlich wie bei Dumont und Derrida. Darüber
hinaus aber werden die Paradoxien des Rechts sichtbar, sobald man
nur den selbstreferentiellen Charakter der Rechtsoperationen, die
rekursive Anwendung der Rechtsoperationen auf ihre Resultate, ernst
nimmt. Wenn man den binären Code des Rechts, die Unterscheidung
Recht/Unrecht, auf sich selbst anwendet, endet man in einer unendlichen
Oszillation, die den Beobachter paralysiert. Dann wird sichtbar,
daß die gesamte Ordnungsapparatur des Rechts mit ihrem institutionalisierten
Code und ihren institutionalisierten Programmen auf einem Paradox
gegründet ist, auf einer willkürlichen ersten Unterscheidung (Luhmann
1988).
Nimmt man diese beiden Aspekte zusammen, dann wird sichtbar, daß
die imposante Architektur unterschiedlicher Schichten von Rechtssetzungsautorität
in Wahrheit die Wirklichkeit eines trompe d'oeuil besitzt. Ganz
vorzüglich haben "The King's Two Bodies" - die grandiose
christologische Fiktion des unsterblichen Souveräns oberhalb des
sterblichen Menschen (Kantorowicz
1957) - das Recht gegen die Dekonstruktion seines Fundamentes
und seiner Identität geschützt. Hinter der Fassade der Rechtshierarchie,
in deren oberen Etagen die zwei Körper des Königs residierten, konnten
sowohl das Gründungsparadox des Rechts als auch die in sich widersprüchliche
Vielfalt seiner Bedeutungen gut verborgen bleiben. Die verfassungsrechtliche
Konstruktion des politischen Souveräns als obersten Rechtssetzungsorgan
auf der Spitze der Normenhierarchie erlaubte es dem Recht, sein
bedrohliches Ursprungsparadox zu externalisieren und es der Politik
zu überantworten, wo es durch politische Legitimation - heute nicht
mehr dynastischer, sondern demokratischer Art - "gelöst"
wird. Dieses Manöver der heute geltenden Verfassungsdoktrin ist
einer unter mehreren historisch erfolgreichen Versuchen, sich des
Rechtsparadoxes dadurch zu entledigen, daß man es aus dem Recht
exportiert. In der positivistischen Rechtstheorie sind ganz ähnliche
Exportunternehmen gestartet worden. Hans Kelsen verfrachtete das
Rechtsparadox in den Transzendentalismus der hypothetischen Grundnorm,
während Herbert Hart es in die soziale Praxis der "ultimate
rule of recognition" beförderte (Kelsen
1960; Hart
1961). Die Externalisierungstechnik wurde im übrigen nicht nur
für das Gründungsparadox angewendet, um es vor seiner Dekonstruktion
zu schützen, sondern auch für die widersprüchliche Identität des
Rechts selbst. Wie mit konfligierenden Konstrukten des Rechts durch
unterschiedliche Beobachtungskontexte umzugehen ist, liegt heute
nicht in der Verantwortung des Rechts selbst, sondern in der Verantwortung
demokratisch legitimierter Politik.
Wo also liegt dann der Unterschied zwischen konstruktivistischer
und de-konstruktivistischer Rechtstheorie? Entgegen dem ersten Eindruck,
der sich damit zufriedengibt, dekonstruktiven Antirationalismus
mit systemtheoretischem Superrationalismus zu konfrontieren, zeigt
sich bei deutlicherem Hinsehen, wie parallel die beiden Theorien
konstruiert sind.(3) Beide Theorien
beginnen mit Differenz und enden - Einheit, Identität und Synthese
werden dabei auf den zweiten Rang verwiesen - mit Differenz. Beide
Theorien sind postmetaphysisch, postdialektisch und poststrukturalistisch.
Die meisten der unstabilen, merkwürdig oszillierenden Begriffe des
Dekonstruktivismus finden ihre eher solide wirkenden systemtheoretischen
Entsprechungen: différance und differenzerzeugende Unterscheidungskaskaden
in unterschiedlichen Umwelten, itération und rekursive Selbstanwendung
von Unterscheidungsoperationen, die gleichzeitig identisch und nicht-identisch
sind, présence/absence und Inklusion/Exklusion von Systemen,
supplément und blinder Fleck der Unterscheidung, der unsichtbare
Parasit, violence de la fondation und willkürliche Anfangsunterscheidung
der Autopoiesis. Es scheint, als ob gleichzeitig (un)abhängige Entdeckungen
in Paris und Bielefeld gemacht worden sind.
Systemdekonstruktion, deconstructing systems - das Oxymoron vereinigt
beide Theorien. Und es trennt sie zugleich. Denn hier erst - in
der Doppelbedeutung des Ausdrucks - ist der Bifurkationspunkt, an
dem beide Theorien sich trennen. Systemtheoretisch besonders relevant
ist die zweite Bedeutung von Systemdekonstruktion: Systeme sind
nicht nur passive Objekte dekonstruktiver Anstrengungen, sondern
sind aktive Subjekte der Dekonstruktion, einschließlich ihrer Selbstdekonstruktion.
Ja, man wird sagen müssen, daß Systemdekonstruktion nicht ohne ihre
Selbstdekonstruktion geschehen kann.
In dieser Perspektive verblaßt die übliche Kritik am Dekonstruktivismus,
daß er zu radikal sei, zu negativ, destruktiv und nihilistisch.
Das genaue Gegenteil trifft zu. Die dekonstruktive Denkbewegung
ist nicht radikal genug! Sie bleibt auf halbem Wege stehen. Denn
sie zieht letztlich nicht die Konsequenzen aus ihrer inzwischen
bewährten Doppelmethode, stabile Systeme in Paradoxien und Vielfachidentitäten
aufzulösen. Vielmehr verharrt sie im verführerischen Halbdunkel
der Paradoxien und Unentscheidbarkeiten, um sich dort willig den
unendlichen Anforderungen einer Transzendenz (Alterität, Gerechtigkeit,
Freigebigkeit, Freundschaft, Demokratie...) auszusetzen, deren Botschaft
jedoch nicht dechiffrierbar ist (Derrida
1990, 958; 1993,
90ff.). Dekonstruktion erscheint als eine fröhlich-traurige, ausgelassen-verzweifelte
Umkehrung der Hierarchien, die aber letztlich keine Konsequenzen
hat, da sie in ihrem negativen Spiegelbild der "tangled and
reversed hierarchies" die bestehende Ordnung nur bestätigt
- ein Karneval der Moderne.
Inwiefern geht die bisherige Dekonstruktion des Rechts nicht weit
genug? Ich sehe drei Richtungen, in denen eine dekonstruktive Analyse
des Rechts auf halbem Wege stehenbleibt und entsprechend vorangetrieben
werden müßte:
1. Autologik: Sofern die dekonstruktive Rechtstheorie eine autologische
Perspektive einnimmt, wird deutlich, daß eine Dekonstruktion des
Rechts stets nur als Selbstdekonstruktion der Rechtspraxis erfolgreich
ist.
2. Unterscheidungsrisiko: Sofern die dekonstruktive Rechtstheorie
der Faszination mit dem Rechtsparadox entkommt, kann sie auch das
Risiko eingehen, neue - ihrerseits dekonstruierbare - Unterscheidungen
zu treffen.
3. Wahlverwandtschaften: Sofern die dekonstruktive Rechtstheorie
ihre bisherige soziologische Blindheit überwindet, kann sie Wahlverwandtschaften
von Rechtssemantik und Sozialstruktur sehen, die es möglich machen,
verantwortbares Wissen über eine nach-dekonstruktive, "polykontexturale"
Rechtswirklichkeit zu produzieren.
II. "No Consequences" (Stanley Fish)
Dekonstruktion ist nur eine unter vielen intellektuellen Bewegungen,
wenn vielleicht auch die perplexeste, welche die Rechtshierarchie
fundamental in Frage gestellt haben. Die Klassiker der Rechtssoziologie,
Marx, Weber und Ehrlich, ebenso wie unter den heutigen Rechtstheorien
der Rechtspluralismus, der Institutionalismus, critical legal studies,
Theorien des private government, Autopoiese und ökonomische
Analyse des Rechts - sie alle haben auf die Hierarchie des Rechts,
in deren oberen Etagen "The King's Two Bodies" residierten,
scharfe Attacken geritten. Doch sämtlich ohne durchschlagenden Erfolg.
Die Könige des Rechts überlebten ausnahmslos sämtliche Angriffe.
Die institutionalisierten Praktiken des modernen Rechts sind aus
all diesen Fundamentalkritiken fast unberührt hervorgegangen (Wiethölter
1986, 53; Heller
1985, 185). Trotz aller Rechtskritik erneuert die Rechtspraxis
in ihren laufenden Operationen eine Normenhierarchie, die ihrerseits
ihre Legitimation aus der Politik bezieht.(4)
Trotz aller kontextuellen Relativierung des Rechts schreibt sich
die Rechtspraxis auch heute noch eine autonome Identität zu, benutzt
trotz aller begründeten Zweifel weiterhin die institutionalisierte
Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung und legitimiert
sich durch Berufung auf demokratische Legitimation und Grundrechte.
Es hat ganz den Anschein, als habe die ganze ruhelose Dekonstruktion
des Rechts nur ein Ergebnis: "No consequences" (Fish
1989). Mühelos hat die Rechtshierarchie alle subversiven Entdeckungen
ihrer Verschleifung und Umkehrung, ihres letztlich zirkulären Charakters,
alle Ausgrabungen ihres Gründungsparadoxes, alle Nachweise ihrer
inneren Brüchigkeit in Unbestimmtheiten und Unentscheidbarkeiten
überstanden. Und es gilt nur eine Einschränkung - daß diese Entdeckungen
nicht von der Selbstdekonstruktion der Rechtspraxis begleitet waren.
Dann - aber auch nur dann - beginnt die grandiose Architektur der
Rechtshierarchie zu wanken.
Ein schlagendes Beispiel ist das Recht der private governments.
Sämtliche Versuche, in diesem Bereich die Normenhierarchie und die
Einheit von Recht und Staat zu dekonstruieren, liefen ins Leere
- bis auf einen. Stets hatte die klassische Rechtsquellendoktrin,
die die Rechtspraxis in ihrer Alltagsarbeit zur Identifizierung
des gültigen Rechts und zur Begründung von Rechtsentscheidungen
benutzt, das Phänomen des private government ignoriert. Private
Regimes normativer Regulierung liegen klar außerhalb der Normenhierarchie
des Rechts und sind deshalb ohne Zweifel - Savigny (1840:
12) hatte es schon gelehrt - Nicht-Recht. Diese Phänomene mögen
alles mögliche sein, professionelle Normen, allgemeine Geschäftsbedingungen,
soziale Regeln, vertragliche Vereinbarungen, Sitten, Gebräuche,
intra- oder interorganisationelle Regimes, nur keine Rechtsnormen.
Die Qualität einer Rechtsnorm wird durch das Kriterium der Zugehörigkeit
zur Normenhierarchie entschieden, wonach höhere Rechtsnormen die
niedrigeren validieren. Normative Phänomene außerhalb dieser Hierarchie
sind bloße Fakten, die der Rechtssoziologie zur Bearbeitung zugewiesen
sind, von der Rechtsdogmatik aber ignoriert werden. Zu Rechtsnormen
werden sie allenfalls durch eine konstitutive Rechtsentscheidung,
die sich ihrerseits innerhalb der Normhierarchie befindet. Die höchsten
Normen in der heutigen Rechtshierarchie sind nach dem Niedergang
des Naturrechts die Normen der nationalstaatlichen Verfassung, die
ihrerseits ihre letzte Legitimation aus dem politischen demokratischen
Prozeß bezieht.
Etwas mühsam, aber letztlich erfolgreich, wurden solche irritierenden
normativen Phänomene entweder in die Hierarchie eingeschlossen ("Recht")
oder aus ihr ausgeschlossen ("Nicht-Recht"). Tertium non
datur. Die Unterscheidung Gesetzgebung/Rechtsprechung mußte trotz
aller Grundsatzzweifel dazu herhalten, das Richterrecht in die Normenhierarchie
zu integrieren. Im Falle privater Regimes - Verträge, Allgemeine
Geschäftsbedingungen, Organisationsnormen - waren die Grundsatzzweifel
noch stärker. Doch wurden private Regimes entweder als bloße soziale
Phänomene aus dem Recht herausinterpretiert oder als "delegierte"
Normsetzung hineininterpretiert. Der festgefügte Rahmen der "Einheit
von Staat und Recht" hielt allen Versuchen, ihn zu brechen,
stand.
Doch inzwischen ist es soweit, daß dieser Rahmen bricht. Dies geschieht
unter dem Einfluß konkreter Rechtsentwicklungen - nicht etwa rechtstheoretischer,
rechtsdogmatischer oder rechtspolitischer Kritiken. Der Great Deconstructor
heißt weder "Jacques Derrida" noch "Niklas Luhmann",
er heißt "Globalisierung".(5)
Die Grundsatzzweifel, die bisher so erfolgreich zum Schweigen gebracht
wurden, explodieren angesichts der lex mercatoria des Weltmarkts
und anderer "staatenloser" Rechtspraktiken, die jenseits
der nationalen Rechtsordnungen, aber auch jenseits des traditionellen
Völkerrechts, das auf zwischenstaatlichen Vereinbarungen beruht,
ein globales Recht ohne Staat produzieren. Die Globalisierung des
Rechts treibt massenhaft Rechtsphänomene hervor, die die Rechtspraxis
zwangsbeschäftigen, ohne daß ihre Normenhierarchie sie ein- oder
ausschließen kann. Der ausgeschlossene Dritte macht sich deutlich
bemerkbar.(6)
Historisch hat sich die lex mercatoria, die transnationale
Rechtsordnung der Weltmärkte, als der bisher erfolgreichste Fall
eines eigenständigen "Weltrechts" jenseits der inter-nationalen
politischen Ordnung erwiesen (Stein
1995; Dezalay/Garth
1995). Multinationale Unternehmen schließen miteinander Verträge
ab, die sie keiner nationalen Gerichtsbarkeit und keinem nationalen
materiellen Recht mehr unterstellen. Sie vereinbaren, ihre Verträge
einer von nationalen Rechten unabhängigen Schiedsgerichtsbarkeit
zu unterstellen, die ihrerseits Normen eines "transnationalen
Handelsrechts" anwenden soll.
Die Rechtspraxis wird von dieser lex mercatoria in tiefe
Verwirrung gestürzt. Nüchterne Juristen lassen sich zu so emotionalen
Äußerungen über lex mercatoria und andere Monstrositäten
eines "anationalen" Rechts hinreißen:
It is difficult to imagine a more dangerous, more undesirable and
more ill-founded view which denies any measure of predictability
and certainty and confers upon the parties to an international commercial
contract or their arbitrators powers that no system of law permits
and no court could exercise (Mann
1984, 197).
Die Fragen, die die Praktiker des internationalen Handelsrechts
in einem bitteren Grundsatzstreit entzweit, sind: Dürfen die Schiedsgerichte
die Verweisungen der Parteien auf ein anationales Recht überhaupt
anerkennen? Können sie die Normen eines globalen "selbstgeschaffenen
Rechts der Wirtschaft", das sich in wichtigen Punkten von nationalen
Rechten unterscheidet, auf private Verträge anwenden? Sollen die
nationalen Gerichte eine solche transnationale Privatjustiz als
positives Recht mit globaler Geltung anerkennen? Offensichtlich
hat sich hier außerhalb nationaler Rechtsordnungen und außerhalb
völkerrechtlicher Vereinbarungen eine funktionierende Rechtspraxis
mit eigenem Normensystem und eigener Gerichtsbarkeit etabliert,
die in die klassischen Normhierarchien des nationalen und internationalen
Rechts nicht eingeordnet werden kann. Gegenüber dem altbekannten
Vertragsrecht ist das eigentlich Neue nicht das Phänomen, daß private
governments eigene Normen produzieren, sondern daß sie sich
im Gegensatz zur traditionellen Vertragspraxis souverän dem Regelungsanspruch
des nationalen Rechts und des Völkerrechts entziehen und eine autonome
Regelungshoheit behaupten und praktisch durchführen. Hier liegt
der entscheidende Unterschied der lex mercatoria zu anderen
Formen der Vertragspraxis, der die Rechtspraxis dazu zwingt, entweder
die Bindung ihrer Operationen an die Normenhierarchie des Rechts
aufzugeben oder aber das gesamte Phänomen der lex mercatoria
in die Illegalität abzudrängen.
Doch geht die Bedeutung des Rechts ohne Staat weit über das reine
Handelsrecht hinaus.(7) In "relativer
Autonomie" gegenüber dem Nationalstaat wie gegenüber der internationalen
Politik (Giddens
1990, 70) bilden sich heute unterschiedliche Sektoren der Weltgesellschaft
aus, die globale Rechtsordnungen eigener Art aus sich heraustreiben.
Kandidaten für ein solches "Weltrecht ohne Staat" sind
zunächst die internen Rechtsordnungen multinationaler Konzerne (Robé
1996; Muchlinski
1996). Ebenso findet sich im Arbeitsrecht eine solche Kombination
von Globalisierung und Informalität. Dies ist der Fall, wenn die
Rechtssetzung in der Hand von Unternehmen und Gewerkschaften als
privaten Akteuren liegt (Bercusson
1996). Dann gibt es Tendenzen im Bereich der technischen Standardisierung
und der professionellen Selbstkontrolle zu Formen weltweiter Koordination,
die nur minimale Interventionen der offiziellen Politik aufweisen.
Doch auch der heute im Prinzip global geführte Menschenrechtsdiskurs
verlangt nach einem Recht sui generis, dessen Rechtsquelle nicht
nur unabhängig von den nationalen Rechtsordnungen ist, sondern sich
gerade gegen Praktiken der Nationalstaaten richtet (Bianchi
1996). Speziell im Fall der Menschenrechte kann man sehen, "wie
unerträglich es wäre, das Rechtssystem der Willkür regionaler Politikprozesse
zu überlassen" (Luhmann
1993b, 577). Auch im Bereich des Umweltschutzes lassen sich
Tendenzen in Richtung rechtlicher Globalisierung in relativer Abgeschlossenheit
von staatlichen Institutionen erkennen. Und sogar in der Welt des
Sports diskutiert man die Emergenz einer lex sportiva internationalis
(Simon 1990; Summerer
1994).
Le droit ou les paradoxes du jeu - mit dieser Formel berühmen
sich Kerchove und Ost (1992),
zwei prominente Vertreter der postmodernen Rechtstheorie, das Gründungsparadox
des Rechts aufgedeckt und im einzelnen analysiert zu haben. Zu Unrecht,
denn das Verdienst gebührt der Basis, nicht dem Überbau, der Praxis
der lex mercatoria und nicht den dekonstruktiven Mühen der
Rechtstheorie. Ja, es ist geradezu der blinde Fleck solcher rechtstheoretischer
Dekonstruktionen, daß sie nicht in autologischer Analyse auf die
historischen Bedingungen ihrer eigenen Kritik achten. Dekonstruktion
ist eine universale Methode, mit Hilfe derer sich jede, aber auch
jede Unterscheidung, jeder Begriff, jedes System in Paradoxien und
Vielfachidentitäten auflöst. Damit erhebt sich fast zwangsläufig
die Frage, unter welchen Bedingungen Dekonstruktion erfolgreich
ist und unter welchen nicht. Wieso ist die Dekonstruktion der Rechtshierarchie,
die doch prinzipiell zu jeder Zeit möglich gewesen ist, am Ende
des 20. Jahrhunderts auf einmal erfolgreich?
In autologischer Sicht müßte es einer dekonstruktiv verfahrenden
Rechtstheorie deutlich werden, daß bestimmte historische Entwicklungen
innerhalb und außerhalb des Rechtssystems dafür verantwortlich sind,
daß das Rechtsparadoxon nur zu einem bestimmten Zeitpunkt die Rechtspraxis
zu blockieren beginnt und ihre Neuorientierung erzwingt. Sicher
spielen rechtstheoretische Konstrukte hierbei eine Rolle, aber ebenso
sicher ist dies nur sekundär. Denn die Rechtstheorie hat durchaus
die Rechtsparadoxien immer wieder und immer unter neuen Vorzeichen
analysiert. Doch solange die Verdrängungsmechanismen der Rechtshierarchie
funktionierten, blieben diese Analysen rechtspraktisch irrelevant.
Sie gewinnen ihre typisch paralysierenden Effekte erst dann, wenn
die spezifischen Verdrängungsmechanismen innerhalb und außerhalb
des Rechtssystems an Plausibilität verlieren. Es kommt also darauf
an, das Netzwerk von Differenzen zu identifizieren, dessen Wegfall
das Gründungsparadox des Rechts für die Rechtspraxis selbst (wieder)
zum Problem macht.
In unserem Falle der privaten Regimes, also der Rechtsnormerzeugung
ohne politischen Souverän, blieb das Paradox der Selbstvalidierung
des Vertrages und der Organisation jahrhundertelang in einem merkwürdigen
Halbdunkel. Die außervertraglichen Bindungsgrundlagen des Vertrages
ebenso wie die außerorganisatorischen Bindungsgrundlagen der Organisation
waren zwar bekannte theoretische Rätselfragen, die aber durch ihre
Politisierung (Hobbes), ihre Historisierung (Savigny) oder ihre
Vergesellschaftung (Durkheim) nicht wirklich gelöst, sondern nur
verschoben und in ihrer Latenz beibehalten wurden. Die Gründe für
die Latenz sind historisch. Ein ganzes Netzwerk von institutionalisierten
Unterscheidungen schützte diese Latenz: der um den Begriff der "Nation"
organisierte "Staat", seine "Verfassung", die
darauf gegründete "Normenhierarchie" des Rechts, die "Gewaltenteilung",
die Unterscheidung von (rechtssetzender) "Gesetzgebung"
und (rechtsanwendender) "Rechtsprechung", die sich wechselseitig
abstützten - sie waren in der Lage, alle praktisch relevanten Formen
der Rechtsproduktion zu absorbieren, indem sie die Selbstvalidierung
von Vertrag und Organisation durch ihre Fremdvalidierung ersetzten.
The King's Two Bodies waren rechtsdogmatisch wohlgenährt
genug, um den Blick auf die Paradoxien des Rechts zu verdecken.
Und diese wurden für die Praxis des Rechts erst dann zum Problem,
als im Zuge der Globalisierung das ganze Netzwerk von politisch-verfassungsrechtlichen
Unterscheidungen drastisch an Plausibilität verlor. Genauer gesagt
geht es nicht nur um den Verlust legitimatorischer Grundbegriffe,
sondern um die operativen Instrumente der Rechtspraxis selbst, als
diese nämlich massenhaft mit globalen Rechtsphänomenen konfrontiert
war, deren Geltung sie weder auf nationales Recht noch auf Völkerrecht
zurückführen, deren Rechtsnormcharakter sie aber gleichfalls nicht
einfach ignorieren konnte. Der Unterschied zwischen hochglobalisierten
gesellschaftlichen Teilsystemen, besonders der Wirtschaft, und einer
nur internationalisierten, aber nicht ausreichend globalisierten
Politik bringt das Rechtssystem in eine institutionelle Schieflage.
Wirtschaftlicher Bedarf nach global geltendem Recht treibt merkwürdige
globale Rechtsformen hervor, die keine Gesetzgebung, keine Verfassung,
keine Normhierarchie kennen, welche in der Lage wären, das Paradox
der Selbstvalidierung von Vertrag und Organisation latent zu halten.(8)
Die Rechtshierarchie zerbricht nicht unter den Attacken der Rechtstheorie,
wohl aber an der Selbstdekonstruktion der Rechtspraxis.
Hier liegt vielleicht eine der größten Schwierigkeiten, die sich
stellen, wenn das dekonstruktivistische Unternehmen seine Aktivitäten
über Literaturtheorie und Philosophie hinaus in die exotischeren
Gegenden der institutionalisierten Entscheidungspraktiken wie Recht,
Politik und Wirtschaft ausdehnen will. Derrida selbst spricht aus
diesem Anlaß von "hastigen Transpositionen" und "konfusen
Homogenisierungen" (Derrida
1990, 934). Einer der wenigen rechtstheoretischen Dekonstruktivisten,
der sich diesen Schwierigkeiten stellt, ist Pierre Schlag, wenn
er das von Ronald Dworkin (1986)
so gefeierte "Law's Empire" in aller Härte mit
"L.A. Law" kontrastiert, wenn er die begrifflich
"reine" akademische Rechtsdogmatik mit den "dirty
practices" der realen Rechtsoperationen korrigiert (Schlag
1991, 890ff.). Damit dürfte er wesentlich dazu beitragen, die
eigentümliche soziologische Blindheit des dekonstruktiven Denkens
als Problem anzugehen. Ein soziologisches supplément - systemtheoretisch
gesprochen ist es die Unterscheidung von Operation/Beobachtung -
scheint für die rechtsphilosophische Dekonstruktion gefährlich zu
werden, die sich bisher nur auf "Law's Empire"
kapriziert, auf die Selbstbeobachtungen des juristischen Diskurses,
auf "reine" soziale Abstraktionen des Rechts, auf rechtsdogmatische
und rechtstheoretische Konstrukte, auf normative Argumente und Interpretationen.
"L.A. Law" wäre das für die Dekonstruktion gefährliche
supplément: die "dirty practices" des real
existierenden Rechtssystems, die elementaren Rechtsoperationen,
die Rechtsakte, die effektiv die Mikrovariationen der Rechtsstrukturen
auslösen. Entscheidend ist, daß diese Elementaroperationen nicht
einfach als blinde Dezisionen abgetan werden können, sondern daß
sie selbst sinnhafte Unterscheidungen erzeugen. Die über das Recht
disponierenden Operationen - nicht nur die begründenden Rechtsargumente
und dogmatischen Konstrukte - unterscheiden, bezeichnen, beobachten,
konstruieren Sinnwelten und dekonstruieren sie. Das Spiel der Rechtsdifferenzen
geht über die argumentativen Praktiken rechtlicher Selbstbeobachtungen
hinaus und ergreift den harten Kern der das Recht reproduzierenden
Operationen. Um wieder auf unser Beispiel der Rechtsnormenhierarchie
zurückzukommen: Während die rechtstheoretischen Dekonstruktionen
nur den Begriff der Hierarchie betrafen, dekonstruiert die heutige
Rechtsglobalisierung die Reproduktion der Hierarchie selbst.
Es stellt sich natürlich die Frage, ob und inwieweit Dekonstruktion
als eine "quasi-transzendentale" Theorie (Cornell
1992b, 1595) diesen blinden Fleck bemerken, geschweige denn
ihn zum Sehen bringen kann. Ist ihr eine autologische Analyse der
historischen Bedingungen ihrer Erkenntnis im Prinzip verschlossen?
Ist Dekonstruktion in ihrer Selbstbegrenzung auf Texte und Intertextualität
gefangen? In der Tat hat Drucilla Cornell in ihrem Vergleich von
Luhmanns und Derridas Rechtstheorie eine soziologische Aufklärung
der Dekonstruktion verworfen:
In terms of the relationship between sociology and a quasi-transcendental
analysis such as Derrida's philosophy of the limit, this understanding
of deconstruction has led to the inescapable conclusion that sociology,
even its most sophisticated forms, such as Luhmann's systems theory
is misguided (Cornell
1992b, 1599).
Cornell selbst macht zwar einen Versuch, dekonstruktives Rechtsdenken
zu soziologisieren, aber doch nur begrenzt, indem sie Soziologie
darauf beschränkt, die Mechanismen der Kontinuierung von Macht und
Gewalt zu dokumentieren, statt sie zu einer autologischen Analyse
der Dekonstruktion einzusetzen.
III. Postdekonstruktive Rechtstheorie?
Versucht man, sich mit Empathie und Sympathie in die Denkbewegungen
der dekonstruktiven Rechtstheorie einzufühlen, dann stellt sich
bald ein merkwürdiges Empfinden der Verzögerung, des Aufschubs,
der Suspendierung, ja fast der Lähmung ein, trotz all der hektischen
Züge und Gegenzüge im Spiel um "Gerechtigkeit als Bedingung
der Möglichkeit von Dekonstruktion des Rechts" (und umgekehrt).
Die dekonstruktivistische Bewegung erscheint manchen Beobachtern
wie ein "Tanz um das goldene Kalb", der trotz des Wissens
aufgeführt wird, daß der eine unsichtbare Gott schon erfunden worden
ist (Luhmann 1994;
1993a, 490).
"Law and the postmodern mind"(9)
scheint sich in einem merkwürdigen Widerspruch verfangen zu haben.
Während es ruhelos dabei ist, das positive Recht im Namen einer
nichtentzifferbaren Gerechtigkeit zu dekonstruieren, verliert es
sich in einer affektiven Beziehung zum Objekt seiner Dekonstruktion.
In neueren Veröffentlichungen spürt man deutlich, wie postmoderne
Rechtstheoretiker - besonders Cornell, Balkin, Douzinas/Warrington,
Somek - an einer solchen selbstauferlegten Paralyse leiden und darauf
drängen, endlich den post-dekonstruktiven Ausweg zu finden. Die
Frage ist nur: in welcher Richtung? Mit wachsendem Unbehagen erleben
diese Autoren die "offene epistemologische Situation",
in denen Rechtswelten und normative Systeme beliebig konstruiert,
variiert, dekonstruiert werden, um aufs Neue rekonstruiert, variiert
und dekonstruiert zu werden ... Wurde diese Offenheit anfangs noch
als Befreiung aus den Zwängen eines geschlossenen Rechtssystems
erlebt, so wird heute die Diffusität, im Recht wie auch anderswo,
selbst zum Problem:
Diese Diffusität läßt sich nun unendlich weiterführen - aber man
kann auch, wenn man solche Unendlichkeit als Sackgasse erlebt, nach
Markierungen für einen Schritt über die Diffusität hinaus Ausschau
halten, der kein Rückschritt in den Raum der hermeneutisch-,sinnerfüllten
Welt' sein sollte (Gumbrecht
1991, 845).
Die Schwierigkeit liegt freilich in der genannten Doppelbedingung.
Und genau daran scheitert etwa Jack Balkins Versuch einer "transcendental
deconstruction" des Rechts, der dekonstruktives Rechtsdenken
auf "the existence of human values that transcend any given
culture" verpflichten will (Balkin
1994, 1138; 1993, 124-127; 1987,
763). Dann freilich wird Dekonstruktion bloß noch zu einer "rhetorical
practice that can be used for many purposes depending on the political
choices of the deconstructor". Dekonstruktion thematisiert
dann nur noch die normative Kluft zwischen unartikulierten Werten
und ihrer kulturellen Artikulierung (1994,
1177). Und Gerechtigkeit, deren Anforderungen nicht mehr wie bei
Derrida "Unendlichkeit", sondern nur noch "Unbestimmtheit"
zugesprochen werden, wird zu einem Approximationswert, den man nicht
"vollständig" erreichen kann.
Immerhin hat Balkin den Mut zu fragen: Was geschieht nach der Dekonstruktion
des Rechts? Aber er fällt letztlich auf vor-dekonstruktive Positionen
zurück, wenn er sich auf quasi-naturrechtliche Wertexistenzen beruft,
die im Recht nur unvollkommen artikuliert seien. Es mag sein, daß
Derridas partielle Inkorporierung von Lévinas' Philosophie der Alterität
zu solchen neo-naturrechtlichen Mißverständnissen einlädt, aber
hier muß man schon Derrida gegen seine besten Freunde verteidigen:
Dekonstruktion betrifft jede, aber auch jede, und nicht nur die
politisch inkorrekte Unterscheidung. Sie kann nicht zu einer bloßen
rhetorischen Technik verkommen, die die Gegenargumente zerstört
und die eigene Wertewahl unberührt läßt.
Von einem politisch-instrumentellen Gebrauch der Dekonstruktion
hat sich Derrida selbst häufig genug distanziert, besonders in seiner
verhaltenen Kritik der critical legal studies (Derrida
1990, 932f., 940). Es geht um mehr als eine bloße politische
Kritik des Rechts. Es geht um die Aufdeckung von fundamentalen Antinomien,
Aporien und Paradoxien im positiven Recht, welche die unendlichen
Anforderungen einer zugleich inner- und außerrechtlichen Gerechtigkeit
um so dringlicher machen. Und wenn Derrida das Problem der Gerechtigkeit
in der Sprache der Alteritätsphilosphie ausdrückt, dann geht es
gerade nicht bloß, wie Balkin sagt, um das einfühlende Verstehen
des "Anderen", also darum, dessen Sprache zu sprechen,
sondern um unendliche Anforderungen, die aus der Einzigartigkeit
des "Anderen" erwachsen. Eine so verstandene Gerechtigkeit
ist im wahren Sinne des Wortes unmöglich. Sie kann aber gleichzeitig
nicht vom positiven Recht getrennt werden. Nach Derrida ist Gerechtigkeit
eine "Heimsuchung" des Rechts, und das Ergebnis ist nicht
Approximation, sondern Provokation (Derrida
1990, 959ff.; 1993,
147f., 167ff.).
Das Recht der Alterität auszusetzen, scheint heute der befreiende
Ausweg aus den Lähmungserscheinungen der dekonstruktiven Bewegung
zu sein, den - mit den Direktiven von Jacques Derrida und Emmanuel
Lévinas ausgerüstet - in der Tat eine Reihe postmoderner Rechtstheoretiker
beschreiten. Die unmittelbare Erfahrung der Forderungen des "Anderen",
die nicht sprachlich vermittelte, nicht kommunizierte Wahrnehmung
seiner Existenz, die Erfahrung der unendlichen Einzigartigkeit der
Alterität ist der Ausgangspunkt für ein Doppeltes: für die Dekonstruktion
des positiven Rechts, das diesen Anforderungen nicht genügen kann
und für das Insistieren auf Gerechtigkeit, die das positive Recht
mit diesen Anforderungen auf Dauer herausfordert (Lévinas
1980, 74f.; Derrida
1990, 958f.). Derrida ist freilich überaus vorsichtig und läßt
sich nur auf vage Andeutungen ein, wohin diese Straße führen könnte.
Dagegen haben Cornell (1992a;
1990, 1051ff.),
Douzinas/Warrington (1994,
Kapt. 4, 6) den Mut, sie im Detail zu explorieren. Das Resultat
dieser Erkundung? Rechtspolitische Empfehlungen an den Richter,
legitime Belange unterdrückter Minderheiten zu berücksichtigen.
Gewiß ein normativ lobenswertes Unterfangen, als Ergebnis ehrgeizigen
Theoretisierens jedoch etwas enttäuschend. Bedarf ein normatives
Engagement für Menschenrechte tatsächlich des Umwegs über Dekonstruktion
und die Philosophie der Alterität?
An der Kombination von Dekonstruktion und Alterität sind freilich
noch grundsätzlichere Zweifel angebracht. Sie betreffen die Frage,
ob das, was die dekonstruktive Technik der Paradoxierung und der
Identitätsvervielfältigung "offenläßt", in der Tat die
Einzigartigkeit des Anderen ist. Systemtheoretisch würde man jedenfalls
argumentieren, daß an dieser Stelle die dekonstruktive Erfahrung
des blinden Flecks einer jeden Unterscheidung steht, die die Frage
nach der immanenten "Adäquanz" der Unterscheidung und
ihrer transzendenten "Gerechtigkeit" tatsächlich mit aller
Dringlichkeit aufwirft. Keineswegs ginge es darum, der Frage nach
der Transzendenz des Rechts, die die Philosophie der Alterität neu
stellt, ihre Berechtigung oder Relevanz abzusprechen. Doch würde
diese Frage nicht nur in Bezug auf den "Anderen" in seiner
unendlichen Einzigartigkeit aufgeworfen, demgegenüber jede Rechtskalkulation
inadäquat bleiben muß. Die fundamentale Inadäquität kommunikativer
Praxis nicht nur gegenüber dem "Anderen", sondern gegenüber
der "Welt" als Einheit von System und Umwelt, also das
Problem ihrer "Weltgerechtigkeit" ist eine Erfahrung,
die jede Kommunikation von Anfang an begleitet. Das lenkt die Aufmerksamkeiten
unmittelbar auf die "Ungerechtigkeiten", die kommunikative
Praktiken - unter anderem das Recht - nicht nur dem Bewußtsein und
der Körperlichkeit zufügen, sondern ihren nicht-kommunikativen Umwelten
und - last not least - anderen kommunikativen Praktiken selbst.
In der Tat, es ist das Charakeristikum der dekonstruktiven Rechtstheorie,
daß sie als Korrelat zu ihrer Fundamentalkritik die Dimension des
Sakralen in das heute durch und durch säkularisierte Rechtsdenken
auf originelle Weise wiedereinführt. Denn der dekonstruktive Begriff
von Gerechtigkeit ist weder ein innerrechtlicher normativer Maßstab,
noch ein außerrechtlicher, teilsystemspezifischer, etwa politischer
Standard, noch ein gesamtgesellschaftliches Prinzip der Kritik des
Rechts. Dekonstruktive Gerechtigkeit spricht die Transzendenz des
Rechts an. Indem Dekonstruktion die prinzipiell unüberbrückbare
Differenz zwischen positivem Recht und einer solchen Gerechtigkeit,
zugleich aber auch ihre untrennbare Verwobenheit betont, formuliert
sie die transzendente Dimension des Rechts, die seit der Säkularisierung
des Rechts ausgeblendet worden ist.(10)
Und sie hebt sich deutlich von den heutigen Thematisierungen der
Beziehung von Recht und Religion, von Rechtsdogmatik und Theologie
ab. Denn Dekonstruktion eröffnet eine a-religiöse, a-theologische
Erfahrung der Transzendenz, die eine politisch-rechtliche Reflexion
der Transzendenz, selbst unter heutigen Bedingungen ("Gott
ist tot"), zu ermöglichen sucht. Das sind kühne Spekulationen,
die in das Rechtsdenken einen Unterschied einführen, der einen Unterschied
macht.
Aber so kühn der Gedanke ist, so unangemessen ist der Optimismus
juridischer Derridisten, solch eine transzendente Dimension des
Rechts könne einen neuen politischen Rechtsaktivismus anleiten.
In der Tat, die Erfahrung einer Transzendenz des Rechts kann politische
und rechtliche Praxis verändern: der Anblick einer maßlosen Gerechtigkeit,
deren extreme Anforderungen sich nicht realisieren lassen, die unerträgliche
Erfahrung einer unendlichen Verantwortung, das Erlebnis eines grundsätzlichen
Versagen des Rechts, die Erfahrung von tragic choices, die, wie
immer man entscheidet, in Ungerechtigkeit und Schuld enden. Aber
wie soll eine solche Erfahrung je rechtspolitische Normierungen
anleiten, die etwa um Minderheitenschutz oder um Rechte für Einwanderer
und Frauen gehen? Die Instrumentalisierung der dekonstruktiven Gerechtigkeit
für rechtspolitische und rechtsdogmatische Zwecke bedeutet letztlich,
die sakrale Dimension zu profanisieren, die fundamentale Trennung
von positivem Recht und transzendenter Gerechtigkeit, auf der Derrida
immer wieder besteht, einzuebnen.
Man kann auch mit Recht bezweifeln, ob Derridas eigene Dekonstruktion
der Philosophie der Alterität Levinas' hier weiterführt (Derrida
1978). Er argumentiert, daß die ethische Asymmetrie, die Levinas
fordert, in letzter Linie als Entschuldigung für Herrschaft und
Gewalt dienen wird, wenn sie nicht durch eine phänomenologische
Symmetrie ergänzt würde, in der der Andere phänomenologisch als
alter ego anerkannt würde. Aber was außer einem vagen humanistischen
Impuls kann man aus der phänomenologischen Symmetrie, die aus einer
dekonstruierten Philosophie der Alterität erwächst, erwarten? Es
ist schlechterdings nicht sichtbar, wie eine solcher "Dekonstruktivismus
mit menschlichem Antlitz" Orientierung verschaffen könnte angesichts
der drängenden Frage, wie das Recht in einer superkomplexen Gesellschaft
noch den Anspruch auf Gerechtigkeit aufrechterhalten kann. Die rechtlichen
und politischen Nutzanwendungen des dekonstruktiven Denkens (Cornell
1990, 1992a;
Douzinas/Warrington
1994) beschränken sich entsprechend auch weise auf den relativ
klargeschnittenen Konflikt zwischen Minderheiten und der Staatsgewalt,
in dem sie im Namen der Alterität problemlos Partei ergreifen können.
Sie schweigen sich aber beredt aus, sobald auch nur Kollisionen
von Menschenrechten rechtlich entschieden werden müssen, von Kollisionen
inkompatibler Sinnwelten gar nicht zu sprechen. Und selbst wenn
man demgegenüber wieder auf der fundamentalen Trennung von immanentem
Recht und transzendenter Gerechtigkeit besteht, die es ausschließt,
daß Gerechtigkeitsanforderungen jemals zu kleiner Münze verrechtlicht
werden können, bleibt die Frage, ob denn eine dekonstruktive Rechtstheorie
nicht mehr zu den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen des Rechts
zu sagen hat als einen mystischen Appell zur Alterität zu äußern.
Es hat ganz den Anschein, als ob auch und gerade die "ethische"
Interpretation der "bejahenden" Dekonstruktion (dazu kritisch
Vismann 1992,
261) in der paradoxen Beziehung zwischen immanentem Recht und transzendenter
Gerechtigkeit gefangen bleibt.
Dies drängt auf die Frage hin, ob es dem dekonstruktiven Rechtsdenken
möglich ist, sich selbst zu transzendieren, um dem impasse
zu entkommen. Es ist bemerkenswert, wie in der Debatte um Gerechtigkeit
Dekonstruktion die autologische Selbstanwendung vermeidet, ja sich
dagegen immunisiert, die eigenen Leitunterscheidungen auf sich selbst
anzuwenden. Vermutlich liegt gerade in der merkwürdigen Selbstexemption
der Grund für die Lähmungserscheinungen der dekonstruktiven Rechtstheorie:
La justice en elle-même, si quelque chose de tel existe, hors ou
au-délà du droit, n'est pas déconstructible. Pas plus que la déconstruction
elle-même, si quelque chose de tel existe. La déconstruction est
la justice (Derrida
1990, 944).
Der dekonstruktive Tanz, wenn es ihn denn gibt, mag seine Lähmung
überwinden, wenn die autologische Figur freigegeben ist, wenn Dekonstruktion
selbst dekonstruiert werden kann. Paradoxierung ist ja ihrerseits
selbst eine paradoxe Operation, die in ihren Oszillationen zwei
Seiten hat. Auf ihrer "logischen" Seite oszilliert sie
zwischen dem positiven und dem negativen Wert ihrer Unterscheidung
und paralysiert damit das Beobachten. Auf ihrer "rhetorischen"
Seite oszilliert sie dazwischen, die Unterscheidung zu paradoxieren
und sie wieder zu entparadoxieren. Die Lähmung "löst sich"
in der Zeit. Die Oszillation verliert, wenn sie temporalisiert wird,
ihre paralysierenden Effekte. Dann wird das um sich selbst kreisende
Spiel der Dekonstruktion zu einer fast rhythmisch pulsierenden Bewegung:
das Paradox aufzudecken, es wieder zu verstecken, es wieder aufzudecken
... Entsprechend braucht Dekonstruktion nicht mehr der Lähmungstanz
zu bleiben, der sie ist. Sie wird zur Provokation, neue Unterscheidungen
zu treffen. Dekonstruierbare Unterscheidungen! Unterscheidungen,
die bis auf weiteres das Paradox verbergen und es der Zukunft überlassen,
ob und wann es wieder aufgedeckt wird.
Um wieder auf unser obiges Beispiel, dem Recht der private governments
in der Weltgesellschaft, zurückzukommen: Wo liegt das neue Versteck
für das Rechtsparadox, das in seiner bedrohliche Existenz von Globalisierungprozessen
aufgedeckt wird? Wenn die Rechtshierarchie einmal dekonstruiert
ist, sollte man dann eine ihrerseits dekonstruierbare Paradoxieentfaltung
in der Weise riskieren, daß man in der Richtung eines "polykontexturalen"
Rechts sucht? Ein solches Recht wäre nicht hierarchisch in einer
Normenpyramide, sondern wäre in einem heterarchischen Normenensemble
strukturiert; es hätte eine Vielfalt von Rechtsquellen, die sich
nicht mehr nur aus der unversiegbaren Quelle der demokratisch legitimierten
Politik speisten; es wäre ein Recht ohne Rechtseinheit, ein Recht,
das von unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen mit widersprüchlichen
Eigenrationalitäten erzeugt und aufrechterhalten wird. Recht bliebe
Recht, es bliebe mit sich selbst identisch, aber doch von sich selbst
verschieden, da es in unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen
"produziert" wird. Das gleiche ist verschieden. Die traditionelle
hierarchische Unterscheidung von (politischer) Rechtssetzung und
(richterlicher) Rechtsanwendung würde abgelöst von einer heterarchischen
Vielheit von Rechtsordnungen, die jeweils in "struktureller
Kopplung" zu einem anderen gesellschaftlichen Teilsystem stehen.
Diese Kopplungen stünden ihrerseits in einer zirkulär-selbstreferentiellen
Beziehung zueinander, innerhalb derer Rechtsgeltung produziert wird.
Die politische Gesetzgebung verliert in einer solchen Sicht ihre
privilegierte Stellung und wird zu einer unter vielen peripheren
Arten der gesellschaftlichen Rechtserzeugung. Das Recht der patchwork
of minorities, ethnischer und religiöser Art, Regeln der technischen
Standardisierung, professionelle Disziplin, vertraglich begründete
Rechte und Pflichten, intra- und interorganisationale Regimes -
all die unterschiedlichen Weisen der Foucaultschen normalisation
(Foucault 1975)
- werden zu prinzipiell gleichursprüngliche Formen der Rechtserzeugung.
Das große Gründungsparadox des Rechts, das bisher so erfolgreich
hinter den King's Two Bodies, hinter der Fiktion des politischen
Souveräns versteckt wurde und erst von der Bewegung zu einer Transnationalisierung
des Rechts aus seinem Versteck hervorgezogen wurde, wird nun in
eine Vielheit der selbstvalidierenden Paradoxien aufgelöst und in
unterschiedliche gesellschaftliche Domänen externalisiert. Der Eine
König hat zwei, drei, vier ... viele Leiber.
Die vielen Rechte der Polykontexturalität verbergen ihre paradoxieträchtige
Selbstvalidierung in einem "Als-ob", denn jedes dieser
Rechte erzählt seinen eigenen Ursprungsmythos, der es der Frage
nach seinem historischen Anfang enthebt. Für keine dieser Rechtsordnungen
läßt sich objektiv historisch der Moment nachweisen, an dem sich
die Rechtsproduktion hyperzyklisch schließt. Der Anfang ist in der
Mitte! Wie in dem berühmten "Glas" von Derrida (1974),
in dem der Text keinen Anfang hat, sondern in der Mitte einer Geschichte
einsetzt, die schon begonnen hat, so haben die polykontexturalen
Rechtsdiskurse schon seit "unvordenklicher Zeit" ihr Recht
gesprochen. Denn die rekursive Produktion des Rechts, die sich aus
Rückgriffen auf schon vorhandenes Recht und Vorgriffen auf zukünftige
Erwartungen speist, kann nicht ex nihilo beginnen. Sie kann
immer nur auf schon Vorhandenes rekurrieren. Und eben wegen ihrer
Rekursivität, die auf gleichartiges Sinnmaterial Bezug nehmen muß,
kann dieses Vorhandene nicht etwas sein, das sich außerhalb der
Kette der unendlichen Rekursionen befindet. Es muß selbst schon
Teil dieser Kette sein. Und wenn es dies Vorhandene nicht gibt,
dann muß es eben erfunden werden. Deshalb müssen die polykontexturalen
Rechtsdiskurse, die nur auf Rechtsentscheidungen rekurrieren können,
bestehende Sinnmaterialien als Rechtsentscheidungen fingieren, selbst
wenn diese in Wahrheit ganz anders gemeint waren.
IV. Juridische Wahlverwandtschaften
Was jedoch gibt uns die Sicherheit, daß ein solcher Begriff des
polykontexturalen Rechts nicht seinerseits der philosophischen Dekonstruktion
ausgesetzt ist, oder schlimmer noch: daß die heute schon beobachtbare
globale Praxis eines polykontexturalen Rechts nicht zum Opfer der
eigenen Selbstdekonstruktion wird? Die Antwort: nichts. Und nur
eins ist sicher: daß sie dekonstruierbar sind. Post-dekonstruktive
Begriffe und Praktiken sind ihrerseits nicht immun gegen ihre Dekonstruktion.
Stattdessen heißt die Frage jetzt: Was sind die Bedingungen ihrer
Stabilität, die sie (vorübergehend) dekonstruktionssicher machen?
Genau an diesem Punkte unterscheidet sich die systemtheoretische
Beobachtung zweiter Ordnung von der Dekonstruktion, insofern sie
beobachtet, wie das Risiko einer dekonstruierbaren Paradoxieentfaltung
eingegangen wird: Wer ist der Beobachter, der das Risiko eines neuen
Rechtsbegriffs eingeht? Wann wird ein postdekonstruktiver neuer
Rechtsbegriff gesetzt? Unter welchen sozialstrukturellen Bedingungen?
Hier eröffnet sich ein weites Betätigungsfeld für rechtssoziologische
Analysen. Doch heißt die Frage jetzt nicht mehr wie oben im Text,
was die gesellschaftlichen Bedingungen für eine Selbstdekonstruktion
des geltenden Rechts, für die Visibilisierung der Rechtsparadoxie,
sind. Vielmehr müßte eine rechtssoziologische Analyse die Wahlverwandtschaften
zwischen Rechtssemantik und Sozialstruktur zu klären suchen, nämlich
ob, wann und unter welchen Umständen ein neuer Rechtsbegriff, also
eine andersartige Entparadoxierung des Rechts, gesellschaftliche
Plausibilität beanspruchen kann. In der Tat sind dies Marx' Gespenster,
die das Recht hier heimsuchen und die für die alte Trias von Produktionsverhältnissen,
Klassenstruktur und Rechtsideologie einen neuen Ausdruck suchen.
Die neue Trias - gesellschaftliche Differenzierung, Sozialstruktur
und Rechtssemantik - macht deutlich, daß das Recht der heutigen
Gesellschaft das Resultat einer strukturellen und semantischen Katastrophe
ist, die in der Moderne stattfindet und in der Postmoderne ihrer
negativen Konsequenzen ansichtig wird. Aber wenn dies so ist, dann
sollten die Instrumente der Dekonstruktion so gewählt werden, daß
sie ausreichend Wissen über die postkatastrophische Situation verschaffen
(Luhmann 1994).
Dies wäre der entscheidende Schritt über Derridas "Gehen durch
die Wüste" hinaus, über die "notwendig unbestimmte, abstrakte,
wüstenähnliche Erfahrung, die dem Warten auf den Anderen und auf
das Ereignis anvertraut, ausgesetzt und aufgegeben ist" (Derrida
1993, 148). Trotz des unüberbrückbaren Hiatus zwischen einer
Gerechtigkeit gegenüber dem Anderen in seiner Einzigartigkeit und
den abstrakten Kalkulationen des Rechts, welchen die Dekonstruktion
aufdeckt, müsse man dennoch die Suche nach Gerechtigkeit fortsetzen
und die Einzigartigkeit des Anderen mit der Abstraktheit, Objektivität
und Kalkulierbarkeit des Rechts "aushandeln". Aber genau
an dieser Stelle liegt die Ursache der dekonstruktiven Lähmung:
Dekonstruktion kann selbst keine Kriterien liefern (Vismann
1992, 264). Hier findet sich die Stelle, an der das dekonstruierte
Recht unmittelbar auf die unendlichen Anforderungen der Gerechtigkeit
stößt. Das Recht liegt in Ruinen und wird vom Gespenst der Gerechtigkeit
heimgesucht. Was kann man in einer solchen Situation noch von "Aushandeln"
erhoffen?
Derrida kritisiert Walter Benjamin dafür, daß die Unterscheidung
zwischen mythischer Gewalt und göttlicher Gewalt für gewöhnliche
Sterbliche nicht entzifferbar sei (Derrida
1990, 1032ff., 1044). Tu quoque, Iacobus! Sein Argument
ist dem gleichen Einwand ausgesetzt. Denn trotz aller wiederkehrenden
Aufforderungen zum "Aushandeln", zu "Kompromissen"
zwischen Recht und Gerechtigkeit, beläßt uns Dekonstruktion in der
Situation einer unerträglichen Verantwortung. "Vor dem Gesetz"
der Dekonstruktion sind wir den unendlichen Ansprüchen einer unzugänglichen
Autorität ausgesetzt, deren Botschaft nicht entschlüsselbar ist.
Derrida setzt sein eigenes Unternehmen unter enormen praktisch-konkreten
Handlungsdruck, wenn er formuliert:
Et une promesse doit promettre d'être tenue, c'est-à-dire de ne
pas rester ,spirituelle' ou ,abstraite', mais de produire des événements,
de nouvelles formes d'action, de pratique, d'organisation, etc.
(Derrida 1994, 89).(11)
Doch ist es wenig überzeugend, dann auf second best-Lösungen
des "Aushandelns" und der "Kompromisse" zu verweisen,
wenn man nicht einmal die ungefähre Richtung angeben kann, in der
Kompromisse gesucht werden sollen. Sind solche leeren Kriterien
des Zweitbesten das Einzige, was nach der Dekonstruktion des Rechts
im Namen der Gerechtigkeit übrigbleibt?
Demgegenüber käme es darauf an, die Instrumente der Dekonstruktion
so einzustellen, daß sie mehr bewirken als nur die Bedeutungsvielfalt
des Rechts und das Gründungsparadox mit den unendlichen Anforderungen
einer fernen Gerechtigkeit zu konfrontieren. Was machen sie sichtbar
von der postkatastrophischen Situation, oder in des Meisters Worten,
was sagen sie über die intendierte "maximale Intensivierung
der bereits stattfindenden Transformationen" in einer "industriellen
und hypertechnologisierten Gesellschaft" (Derrida
1990, 932) aus? Und hierfür kommt es darauf an, daß man nach
der Dekonstruktion nicht nur dem unüberbrückbaren Abgrund zwischen
einem dekonstruierten Recht und einer transzendenten Gerechtigkeit
zu sehen bekommt, sondern Möglichkeiten für neue Unterscheidungen,
die Sinnwelten schaffen, in denen eine Vermittlung von dekonstruiertem
Recht und dekonstruierender Gerechtigkeit möglich wird. Wie sähe
eine möglich neue Korrelation von Rechtssemantik und Sozialstrukturen
aus, die neuen Rechtsunterscheidungen eine jedenfalls zeitweilige
Plausibilität verschaffen?
Wieder scheint Globalisierung den Schlüssel für das Verständnis
gesellschaftlicher Strukturen, die eine deparadoxierende Rechtssemantik
tolerieren, zu liefern. Denn Globalisierung kappt die engen Verbindungen
des Rechts zum demokratisch legitimierten politischen Diskurs des
Nationalstaats. Sie setzt das Recht ohne politische Vermittlung
der "doppelten Fragmentierung" der heutigen Weltgesellschaft
aus: ihrem kulturellem Polyzentrismus und ihrer funktionalen Differenzierung
(Sinha 1995;
Luhmann 1995,
49f.). Dies kann der Suche nach postdekonstruktiven Rechtsunterscheidungen
soziologische Richtungsangaben liefern. Eine neue Rechtssemantik
dürfte sich nicht von der Polyzentrizität unterminieren lassen,
sondern sie als gegeben hinnehmen und darauf aufbauen. Sie müßte
die doppelte Fragmentierung aushalten und sie reflektieren können.
Ubi societas ibi ius (Grotius). Wenn die societas heute
Weltgesellschaft ist, wie sieht dann ihr Recht aus? Es soll hier
die These vertreten werden, daß enge Wahlverwandtschaften zwischen
einem polykontexturalem Recht und der doppelten Fragmentierung der
Weltgesellschaft bestehen. Inwiefern verfügt ein solches Recht über
ausreichende Plausibilität, das Rechtsparadox auch unter Bedingungen
doppelter Fragmentierung erträglich zu machen? Zwei vorläufige Antworten
sollen hier gegeben werden: transjunktionale Rechtsoperationen und
Vielfachexternalisierung des Paradoxes.
Durch transjunktionale Rechtsoperationen wird es möglich, Rechtsformen,
die vom politischen Souverän unabhängig sind, in unmittelbarem Kontakt
des Rechts zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zu konstituieren.
Der Grund für diese politikferne Rechtsproduktion ist, "daß
die strukturelle Kopplung des politischen Systems und des Rechtssystems
über Verfassungen auf der Ebene der Weltgesellschaft keine Entsprechung
hat" (Luhmann
1993b, 582). Sie bedürfen entsprechend einer anderen Logik der
Normerzeugung und der Rechtsargumentation als der organisatorischen
Anbindung und des symbolisch-legitimatorischen Rekurses auf den
politischen Gesetzgeber:
A legal theory in line with the times ought to reorient itself
and its concepts to a heterarchically relational logic of linkage,
if it is to find the functional equivalent to the stable relations
between subject and general reason, between individual case and
norm (Ladeur 1996,
18).
Standardisierung, professionelle Selbstregulierung, intra-organisatorische
Regimes sind unter nationalstaatlichen Bedingungen immer politisch
vermittelt, wenn sie in geltendes Recht transformiert werden sollen.
Unter Bedingungen der Globalität aber verlieren sie diese organisatorischen
und legitimatorischen Vermittlungen und können nur noch als Formen
eines engen Kontaktes zwischen operational geschlossenen Systemen
institutionalisiert werden. Solche Bindungsinstitutionen produzieren
Rechtsnormen - ohne den Umweg über die Politik - über transjunktionale
Operationen. Das bedeutet, daß sie in ihren laufenden Verfahren
nicht nur mit einem binären Code arbeiten, den sie mit konjunktionalen
und disjunktionalen Operationen behandeln. Vielmehr benutzen sie
- innerhalb einer Institution, aber über die Grenzen zweier oder
mehrerer operational geschlossener Systeme hinweg - gleichzeitig
zwei oder mehrere binäre Codes und verbinden diese über transjunktionale
Operationen. Sie erzeugen einen Rejektionswert, der den zunächst
benutzten binären Code als solchen negiert. Damit verfügen sie über
"a deeper two-valuedness that encroaches on the classical opposition
of positivity and negation and contains it as a special case. This
further transclassical two-valuedness is the alternative between
acceptance and rejection value" (Günther
1976, 231). Im Falle technischer Standardisierung sieht dies
so aus, daß ein technischer Standard im Rahmen des Wissenschaftscodes
wahr/falsch erarbeitet wird und dann der Rejektionswert gegen den
Wissenschaftscode eingeführt wird, was den Zugang zu einer ganzen
Vielfalt anderer Codes eröffnet. Der Standard wird mit Hilfe der
anderen Codes in den ökonomischen, politischen und juristischen
Diskurs "übersetzt", dort über Rekontextualisierung in
ein ganz anderes Differenzgefüge (Antonymsubstitution, dazu Holmes
1987, 25ff.) deutlich verändert. Sofern durch diese transjunktionalen
Operationen stabile Eigenwerte der beteiligten Diskurse, die sich
als miteinander kompatibel erweisen, entstehen, ist eine Rechtsnorm
erfolgreich produziert worden, die nicht nur der zweiwertigen Rechtslogik
entspricht, sondern der vielwertigen Logik gesellschaftlicher Fragmentierung.
Zugleich aber stellt das Zusammenspiel von binären Codes auf einer
Ebene und Akzeptanz- und Rejektionswerte auf einer anderen Ebene
sicher, daß stets, wenn es um konkrete Operationen geht, nur mit
binären Unterscheidungen gearbeitet wird, da die Vielwertigkeit
auf unterschiedliche je in sich zweiwertige Ebenen aufgesplittert
ist. Auf diese Weise stellen also Bindungsinstitutionen sicher,
daß die Rechtssemantik unmittelbar auf die doppelte Fragmentierung
der Weltgesellschaft eingestellt ist.
Eine zweite mögliche Antwort heißt Vielfachexternalisierung des
Rechtsparadoxes. Wie gesagt, verwandelt sich bei der spontanen Entstehung
eines polykontexturalen Rechtes das Gründungsparadox des offiziellen
Rechts in eine Vielfalt von Paradoxien (Selbstvalidierung des Vertrages,
der Organisation), die, wenn die unterschiedlichen Rechtsordnungen
in Geltung gesetzt werden, invisibilisiert werden müssen. Das geschieht
dadurch, daß sich jede dieser polykontexturalen Rechtsordnungen
ihre je eigenen Ursprungsmythen schafft, daß sie sich Fiktionen
ihrer Grundlagen, auf die sie ständig rekurriert, erfindet. Diese
werden aber nicht einfach ins Blaue hinein gebaut, sondern müssen
durch externe Bedingungen, auf denen die Fiktionen aufbauen können,
gestützt sein. Diesen Doppelaspekt der Gründungsmythen nützt nun
die Externalisierung der Paradoxien aus. Polykontexturale Rechte
können sich nicht mehr auf den politischen Gründungsmythos des gesetzgeberischen
Willens berufen; sie erfinden sich eine Gründungsfiktion in der
Weise, daß sie stattdessen ihr Paradox in die gesellschaftlichen
Diskurse, mit denen sie strukturell gekoppelt sind, verlagern können.
Daß neues Wissen über eine fiktive Externalisierung erzeugt wird,
diese Erfahrung ist nicht nur in der Psychoanalyse gemacht worden.
Um der zirkulären Selbstreferenz zu entgehen, erfindet der Patient
eine fiktive Hetero-Referenz in der Person des Therapeuten, indem
er diesem volles Wissen über das Symptom zurechnet. Zizeks Analyse
solcher Außenzurechnungen ist verallgemeinerbar und läßt sich auch
in unserem Zusammenhang, der Emergenz polykontexturalen Rechts,
fruchtbar machen:
Erst durch diese Illusion eines vorgängigen Wissens kann am Ende
das wirkliche Wissen hervorgebracht werden. Wir haben es hier mit
einem Grundparadox des signifikanten Prozesses zu tun: die einzige
Möglichkeit, eine neue Bedeutung hervorzubringen, ist der Weg durch
die illusorische Voraussetzung, dieses Wissen sei schon vorhanden
(Zizek 1991, 134).
Es müssen ausreichend nicht-rechtliche Sinnmaterialien vorhanden
sein, welche das Recht als Rechtspräzedentien mißverstehen kann.
Der Gründungsmythos der jeweiligen Rechtsordnung macht dies operative
Mißverständnis akzeptabel. Was nötig ist, sind "nur Situationen,
in denen es hinreichend plausibel war, davon auszugehen, daß auch
schon früher nach Rechtsnormen verfahren worden ist" (Luhmann
1993b, 57).
Im Fall der lex mercatoria werden, wie oben gesagt, Verträge
geschlossen, die nicht auf eine nationale Rechtsordnung Bezug nehmen.
Dennoch wird die Fiktion aufgebaut, daß die Erwartungen aus diesem
Vertrag rechtlich bindend sind. Statt auf den Willen des nationalen
Gesetzgebers nimmt lex mercatoria Rückgriff auf einen reichen
Fundus von nicht-rechtlichen Sinnmaterialien, auf internationale
Handelsbräuche, Verkehrssitten und kommerzielle Praktiken, die unter
den chaotischen Bedingungen des Weltmarktes entstanden sind, oder
besser: auf Praktiken, die von den dominierenden Wirtschaftsinteressen
diktiert worden sind. Im schiedsgerichtlichen Zusammenhang wird
nun ohne den Umweg über politisch-legislative Institutionen die
Fiktion erzeugt, daß diese sozialen Praktiken "schon immer"
Rechtsnormen waren, auf deren Autorität man sich seit unvordenklichen
Zeiten berufen könne. In gleicher Weise nehmen sie Bezug auf alte
Schiedssprüche, in denen nicht nach einem existierenden nationalen
Recht, sondern nach "Billigkeit" entschieden worden war,
und behandeln diese, obwohl sie ausdrücklich als nicht-rechtlich
(ex aequo et bono) gemeint waren, plötzlich als rechtlich
bindende Präjudizien, denen gegenüber sie die Rechtstechniken des
distinguishing und overruling anwenden. Auf diese
Weise kann das Paradox der vertraglichen Selbstvalidierung in der
unendlichen Geschichte uralter Handelsbräuche verborgen werden.
Mit ganz ähnlichen Fälschungen wird in multinationalen Unternehmen
gearbeitet, wenn Organisationsroutinen, die sich in laufender Arbeit
entwickelt haben, plötzlich als arbeitsrechtliche Normen ausgegeben
werden. Deren Selbstvalidierung wird in den verschachtelten Etagen
einer Organisationshierarchie verborgen. Und ebenso verhält es sich
mit neuartigen Eigentumsansprüchen in Computernetzwerken, deren
sich waghalsige Unternehmer berühmen. Im Unterschied zu ähnlichen
Phänomenen im nationalstaatlichen Zusammenhang handelt es sich hier
um historische Situationen, in denen polykontexturales Recht dadurch
entsteht, daß es ohne Abstützung im existierenden positiven Recht
und ohne Berufung auf den politischen Gesetzgeber seine Rekursionen
auf fiktive Präzedenzien stützt und damit sein Gründungsparadox
in nicht-rechtlichen Diskursen versteckt.
V. Des Königs viele Leiber sind unsichtbar
Wie wird eine solche ständige rhythmische Paradoxierung und Deparadoxierung
des Rechts die Basisinstitutionen des Rechts verändern? Lassen sich
daraus normative Perspektiven ihrer Transformation in einer post-dekonstruktiven
Einstellung entwickeln?
Die Versuchung ist groß, hieraus in kritischer Rechtsperspektive
die demokratische Legitimation der polykontexturalen Rechte einzuklagen.
Naming, blaming, claiming - durch Zurechnung der Rechtssetzung
auf eine Vielfalt von sozialen Machtzentren, auf die vielen Könige
des neuen Korporatismus, lassen sich Demokratiedefizite der neuen
Rechte sichtbar machen. In der Tat gibt es in der Debatte um Rechtspluralismus
Tendenzen dieser Art.(12) Private
governments verbergen ihren öffentlichen Status, aber sie können
öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden. Para-politische Regimes
sind oligarchisch gebaut, aber sie können demokratisiert werden.
Quangos sind Formen organisierter Unverantwortlichkeit, aber sie
können durch die Einführung demokratisch-rechtsstaatlicher Verfahren
verantwortlich gemacht werden.
An dieser Stelle jedoch führt die Metapher der vielen Leiber des
Königs in die Irre. Sie ist fruchtbar, insofern sie die Vielheit
der Fiktionen aufdeckt, die die große eine Fiktion des rechtserzeugenden
Souveräns abgelöst hat. Aber sie suggeriert fälschlich, daß doppelte
Fragmentierung der Weltgesellschaft nichts anderes bedeutet als
eine einfache Dezentralisierung politischer Macht, mit dem Ergebnis,
daß Gesetzgebung nunmehr von einer Vielfalt von identifizierbaren
sozialen Machtzentren ausgeht. Damit würde man wieder - wie oben
bei der Kritik an Balkin gezeigt - auf eine prä-dekonstruktive Unterscheidung
zurückfallen, diesmal nicht der moralischen, sondern der politischen
Art. Sie würde für ein polykontexturales Recht die falschen Analogien
nahelegen: politische Handlung, Macht, Einfluß, Manipulation, politische
Verantwortlichkeit.
Man muß jedoch in Betracht ziehen, daß Globalisierung nicht nur
die Selbstdekonstruktion der Rechtshierarchien mit sich bringt,
sondern parallel dazu eine Selbstdekonstruktion politischer Souveränitätsansprüche.
Offensichtlich ist die heutige Weltgesellschaft von politischer
Gewalt und Repression gezeichnet, aber von einer Steuerung dieser
Gesellschaft durch politisch souveräne Gewalten kann keine Rede
sein. Entsprechend kann die Fragmentierung des Rechts nicht mit
der Aufsplitterung politischer Gewalten, die je ihr lokales Rechts
produzieren, gleichgesetzt werden. Vielmehr ist das polykontexturale
Recht von "blinden" Umwelten beherrscht, genauer, von
Systemen seiner innergesellschaftlichen Umwelt, die ohne politisches
Steuerungszentrum sozusagen als Abfallprodukte ihrer laufenden Operationen
Rechtsnormen erzeugen. Das macht es wenig sinnvoll, diese Art von
Beherrschung auf hierarchische Machtzentren in politischen Handlungs-
und Verantwortungsformen zuzurechnen. Vielmehr steht das Recht der
Weltgesellschaft im Zeichen von
replacement of hierarchy - and autarky - by heterarchy. This means
that arkhé (mastery) is located neither at an uppermost level
- it is not hierarchy, mastery in the name and for the sake of the
holy (an absolute and externally given quality) - nor within the
system itself - it is not autarky, self-mastery or self-sufficiency.
Arkhé (mastery) is located outside and in front of the system
- that is, just beyond the system's borders with its accompanying
other or heteros. The role of the accompanying other, or
partner, or heteros of heterarchy, is performed, not by the
environment - which cannot perform any role - but, by other systems
present in the system's environment. Yet even this relation is structured
by the distinction system/environment: if one dealt in systems only,
heterarchy would be unthinkable. Heterarchy is, of course, a paradoxical
mastery - a mastery without a master (Schütz
1996, 275).
Wenn dies so ist, dann kann eine Konstitutionalisierung des polykontexturalen
Rechts nicht einfach die historischen Erfahrungen extrapolieren,
die in den Nationalstaaten mit der rechtsstaatlichen Bändigung politischer
Herrschaft durch eine Rechtsverfassung gemacht wurden. Rechtliche
Kontrollen des Machtmißbrauchs - diese ehrwürdige Formel der Rechtstradition
ist wenig ergiebig, um des Königs viele Leiber zu zivilisieren.
Die Sprache der Willkürkontrolle des Souveräns ist für die Aufgaben
der Konstitutionalisierung polykontexturalen Rechts schlicht ungeeignet.
In der Tat, die neue Wirklichkeit, der sich das Recht stellen muß,
ist der Mangel einer umfassenden gesellschaftlichen Rationalität.
Doch drängt sich die systemtheoretische Einsicht auf, daß trotz
aller Dekonstruktion Subsysteme ruhelos ihren ehernen Gesetzen hochspezialisierter
Rationalitäten folgen. In sich selbst hochrational, aber irrational
in Bezug auf die gesamte Gesellschaft, folgen sie "blind"
ihrer eigenen Logik, sind unkoordiniert, selbstbezogen, chaotisch,
expansiv und imperialistisch. In ihrer doppelten Fragmentierung
entwickelt die Weltgesellschaft selbstdestruktive Tendenzen. Entsprechend
müßte eine Konstitutionalisierung des polykontexturalen Rechts ihren
Fokus neu einstellen: von den politischen Souveränitäten zur Herrschaft
der vielen "blinden" Umwelten und vom Machtmißbrauch des
Souveräns auf selbstzerstörerische Tendenzen kollidierender Diskurse.
Prof. Dr. Gunther Teubner, London School of Economics
and Political Science,
Law Department, Houghton Street, London WC2A 2AE, UK
|