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Leseproben
SozSys 4 (1998), H.2
Fußnoten

 
Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik - Urs Stäheli

(1) Vgl. die Unterscheidung von Identitätsbezeichnung und Selbstreflexion (Luhmann 1990, 483). Nur die Selbstreflexion macht Identität selbst zum Problem, während die Beschreibung der Identität diese nicht problematisieren und reflektieren muß.

(2) Selbst politische Ämter, die Luhmann (1997b) als Elemente der Sozialstruktur konzipiert, können nicht unabhängig von der Semantik funktionieren, da ansonsten ihre Repräsentationsfunktion gefährdet ist. Wie empfindlich Ämter gegenüber semantischen Re-Signifikationen sind, zeigen z.B. die Bedenken von Kommentatoren, daß eine Vertiefung der Clinton-Affäre mit Monica Lewinsky dem Amt des Präsidenten (und nicht nur dem derzeitigen Präsidenten) schaden könnte (vgl. FAZ, 19.8.1998, 1).

(3) Noch deutlicher wird der konstitutive Beitrag der Semantik für das basale Prozessieren von Sinn beim Erziehungssystem. Die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems kann nicht durch das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium erklärt werden; hier wird vielmehr die mitlaufende Selbstreferenz "in den Begriff der Bildung übernommen" (Luhmann 1984, 628).

(4) Teile dieses Abschnittes beruhen auf meiner ausführlicheren Diskussion der Asymmetrie von Semantik und Sozialstruktur (Stäheli 1998) und der semantikinternen Unterscheidung einer "ernsthaften, bewahrenswerten" Semantik von nicht-ernsthaften (poulären?) Semantiken (Stäheli 1997).

(5) Damit ist der im Umkreis des Projektes "Geschichtliche Grundbegriffe" (Brunner/Conze/Koselleck 1972ff.) v.a. von Koselleck theoretisch begründete Ansatz gemeint. Dieser versteht sich explizit als Alternative zur traditionellen philosophischen Begriffsgeschichte (Koselleck 1978; vgl. dazu kritisch aus sprachtheoretischer Perspektive Busse 1987; für eine Kontextualisierung im Rahmen von Diskursanalyse und Mentalitätsgeschichte siehe Schöttler 1988).

(6) Luhmann versucht damit, die ihn interessierende Umstellung von stratifizierter auf funktionale Differenzierung nachzuzeichnen.

(7) So ganz explizit Koselleck (1972, XXII): "Der Wandel geschichtlicher Struktur, also außersprachliche Inhalte (werden) gesucht". Die Begriffsgeschichte geht von einer Trennung von historischen Ereignissen und ihrer sprachlichen Erfassung aus und setzt so eine außersprachliche Ereignisfolge voraus.

(8) Die Beschneidung des für Koselleck wichtigen politischen Aspektes der Begriffsbesetzung möchte Konflikte mit der Evolutionstheorie vermeiden.

(9) Vgl. Sahlins (1976) für eine noch immer treffende Kritik dieser dichotomischen Denkweise.

(10) Das Originalzitat von Stuart Hall (1984) lautet so: "Class relations do not disappear because the particular historical forms in which class is ‘lived’ and experienced at a particular period change".

(11) Die implizite Anordnung von ,Realität‘ auf Seiten der Sozialstruktur findet sich in zahlreichen Formulierungen von Luhmann. Luhmann verwendet geradezu Kriterien der Ästhetik des Realismus, um Selbstbeschreibungen zu evaluieren. Vgl. z.B. Luhmanns (1997, 1069) Zeitdiagnose, daß am Ende des 20. Jahrhunderts "eine zunehmende Diskrepanz zwischen Semantik und Realität" festgestellt werden kann.

(12) Etwas verändert findet sich dieses Argument einige Seiten später in Soziale Systeme. Nun wird aber hervorgehoben, daß es sich bei Reproduktions- und Beschreibungsstrukturen um zwei unterschiedliche Strukturtypen handelt: Während die Strukturen der Reproduktion "lokale Sicherheit" herstellen und somit die Anschlußmöglichkeiten vergrößern, produzieren die Strukturen der Selbstbeschreibung "Gesamtsicherheiten" und damit Redundanz (Luhmann 1984, 387). "Semantische Strukturen" machen die Aktualisierung bestimmter Selektionslinien wahrscheinlicher als andere (Luhmann 1980, 23). Auch in Die Wissenschaft der Gesellschaft wird die Strukturiertheit von Semantik hervorgehoben, hier allerdings mit einer Wendung, welche die Unterscheidung der beiden Strukturtpyen in Frage zu stellen scheint: Semantik ist "eine Struktur der Autopoiesis von Kommunikation" (Luhmann 1990, 107f.).

(13) William Sewell (1992) hat in einem wichtigen Aufsatz zum Strukturbegriff festgestellt, daß durch die verallgemeinerte Verwendung des Strukturbegriffs für Sozialstrukturen häufig der strukturelle Aspekt von Kultur entgeht.

(14) Vgl. auch die Definition von Semantik (Luhmann 1980, 19): "Die Gesamtheit der für diese Funktion benutzbaren Formen einer Gesellschaft (im Unterschied zur Gesamtheit der Sinn aktualisierenden Ereignisse des Erlebens und Handelns) wollen wir die Semantik einer Gesellschaft nennen."

(15) Gleichzeitig verändert sich die Semantik durch ihre Iteration in der Herstellung von Handlungen – jetzt handelt es sich aber nicht um eine Anpassung an Handlungen, sondern um die wiederholungsbedingte Veränderung semantischer Formen.

(16) Zu bedenken ist auch, daß als Semantiken kondensierte Formen sich wiederum durch Handlungszuschreibungen auszeichnen können. Semantiken etwa, die zur Konstruktion von Ethnizität benutzt werden, können einem Mitteilenden zugeordnet werden. Eine deutlich asymmetrisierte Unterscheidungen wie die schwarz/weiß-Unterscheidung kann als rassistische Unterscheidung beobachtet und die Asymmetrie einem Handelnden zugeschrieben werden (z.B. dem kapitalistischen System oder der Herrschaft der Weißen). Dies deutet darauf hin, daß insbesondere deutlich asymmetrisch gebaute Unterscheidungen sich geradezu anbieten, sie als Handlungen zu beobachten. Vgl. auch Jokisch (1996), der den Handlungsbezug im Spencer Brownschen Unterscheidungsbegriff festmachen will, da diese Unterscheidungen immer schon durch die Entscheidung, eine der beiden Seiten zu markieren, asymmetrisiert sind.

(17) Semantik als solche existiert immer nur in ihrem Gebrauch durch kommunikative Operationen. Die häufig schon fast synonyme Verwendung von Semantik und Selbstbeschreibung weist bereits auf den engen Zusammenhang der beiden Begriffe hin. Bei den Luhmann interessierenden gepflegten Semantiken handelt es sich um Semantiken, die speziell für Selbstbeschreibungszwecke entstehen.

(18) Im Gegensatz zu dekonstruktivistischen Theorieangeboten könne die Systemtheorie Beobachtungen auf das Operieren des Systems beziehen. Esposito verdeutlicht die Notwendigkeit einer strikten Trennung von Beobachtung und Operation mit einem Bezug auf das begriffsgeschichtliche Vorgehen: "The connection of events does not coincide with their interpretation, and the historian needs to keep these two orders distinct and to be able to pose the question of the way in which the facts are referred to at any articular time" (Esposito 1996, 605).

(19) Vgl. auch die eingangs zitierte Formulierung von Luhmann, welche die "operativ-strukturelle Ebene" der modernen Gesellschaft ihrer postmodernen Semantik gegenüberstellt.

(20) Vgl. Binzcek (1997) für eine Problematisierung des Verhältnisses von Systemoperationen und Selbstbeschreibungen. Die Autorin hebt hervor, daß sich mit dem Begriff der Selbstbeschreibung auch für die Systemtheorie ein Problem der Lektüre stellt.

(21) Die Komplexität des Verhältnisses von Beobachtung und Operation zeigt sich darin, daß hier von einer doppelten Zirkularität ausgegangen wird (Luhmann 1997, 539).

(22) Die Selbstbeschreibung "hat selbst Wissenschaft zu sein" (Luhmann 1990, 533).

(23) Luhmann (1988, 128) stellt denn auch fest: "Offensichtlich gibt es im Anschluß an Zahlungen auch Operationen der Beobachtung und Beschreibung (...), die nicht in Zahlungen bestehen, sich aber auf Zahlungen beziehen". Was hier beschreibend konstatiert wird, führt implizit gerade zu der Unterscheidung zweier Operationstypen innnerhalb des gleichen Systems: zum einen die im symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium codierten Kommunikationen, zum anderen jene, die nur auf das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Bezug nehmen.

(24) Luhmann (1997a, 884) wendet sich explizit gegen "die übliche Behandlung von language und social reality als zwei getrennte Sphären".

(25) So hält Luhmann (1984, 407) daran fest, daß die Reproduktion des Systems ohne Beobachtung möglich ist.

(26) Hayles (1995, 86) argumentiert, daß Maturana mit der "Domäne des Beobachters" einen Raum eröffnet, in dem die Selbstreferenz der Beobachtungen auf diesen beschränkt bleibt, ohne die Autopoiesis des Systems selbst zu betreffen. Erst mit Luhmann wird die Idee der Autopoiesis so weit radikalisiert, daß der Beobachter das beobachtete System kreiert (Hayles 1995, 95). Mein obiges Argument versucht hingegen aufzuzeigen, daß Luhmann einerseits die Beobachtung in die Autopoiesis des Systems miteinbezieht, andererseits aber mit der Gesellschaftsstruktur/Semantik Unterscheidung implizit gezwungen ist, eine Äquivalent zur Domäne des Beobachters anzunehmen.

(27) Es geht hier keineswegs darum, soziale und psychische Systeme gleichzusetzen, sondern um die Fruchtbarmachung eines psychoanalytischen Modells für die Beschreibung sozialer Systeme.

(28) Bei der Umschrift gibt es keinen anderswo präsenten Urtext, sondern es handelt sich um den "Niederschlag eines Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeutete Präsenz immer ,nachträglich‘, im Nachherein und zusätzlich rekonstituiert wird" (Derrida 1972, 323).

(29) Aus der Perspektive einer Lacanianischen Diskurstheorie formuliert ?i?ek (1991, 202): "[T]he true, the past (long-forgotten traumatic encounters) does determine the present, but the very mode of this determining is overdetermined by the present synchronous symblic network" .

(30) Man muß ein derartiges Argument nicht aus psychoanalytischer Sicht entwickeln, sondern kann auch netzwerktheoretisch aufzeigen, wie symbolische Netzwerke soziale Netzwerke strukturien. Vgl. hier die Analyse der bourse du travail von Annsell (1997). Aus organisationstheoretischer Perspektive wird ein ähnlicher Sachverhalt betont, wenn Sinnerzeugung als wesentlich retrospektiver Prozeß verstanden wird (vgl. Weick 1995, 24ff.).

(31) Die Sensibilisierung für die Unterscheidung von Ereignis und Operation verdanke ich Diskussionen mit Georg Jongmanns.

(32) Operationstheoretisch hebt Luhmann (1990, 129) diesen Punkt hervor, da Wiederholbarkeit (als ein Merkmal von Semantik) nur dank rekursiver Vernetzung mit anderen Operationen möglich ist. Wissen als eine wichtige Form von Semantik nimmt stets Konsistenzprüfungen vor, was wiederum die Aktualisierung eines Netwerkes von Bedeutungen voraussetzt

(33) Die Semantik der Postmoderne, die für Luhmann so weit entfernt steht von den soziostrukturellen Realitäten einer noch immer funktionierenden Moderne, fügt sich denn auch nicht in das Schema von Epochalität und Nicht-Epochalität. Vielmehr, und darin liegt ihre Paradoxie begraben, beginnt die Postmoderne damit, daß sie immer schon stattgefunden haben wird. Die Ansage der Ankunft der Postmoderne funktioniert selbst als ein performativer Akt, der in einer Heterogenität zerstreuter Ereignisse sich selbst ankündigt. Kein schon vollzogener epochaler Wechsel wird durch eine Semantik nachvollzogen, sondern innerhalb der Moderne ihre Epochalität disloziert (Thwaites 1997, 27ff.).

(34) Allerdings sollte dieser Eigenwiderstand nicht wiederum auf eine der Semantik vorgelagerte Ebene beschränkt werden wie in Luhmanns (1995c, 121) Analyse politischer Semantik: "Das Problem ist, daß für Zwecke staatlicher, rechtsförmiger Politik ein Begriff von Freiheit konstituiert werden muß, dem die Realität, wie sie in gesellschaftlicher Kommunikation und im Widerstand von Kommunikation erzeugt wird, nicht entspricht".

(35) Vgl. Thwaites (1997, 25) der von lokalen Stabilisierungen spricht, die dem hier diskutierten Modell ,linearer Nachträglichkeit‘ entsprechen.

(36) Robertson (1992, 34) schlägt vor, metakulturelle Codes (Sahlins) herauszuarbeiten, die Kultur und Sozialstruktur voneinander trennen oder verbinden. Das Verhältnis von "symbolischen" und "materialen" Faktoren wird dadurch zu einer empirisch zu klärenden Frage (Somers 1995, 130). Ganz ähnlich könnte ein systemtheoretisches Vorgehen die Vernetzungen von Sozialstruktur und Semantik zu analysieren versuchen, indem die Art der Unterscheidung und Zuordnung als Evolutionsergebnis zu bestimmen wäre.

(37) Vgl. Mitchells (1989) beeindruckende Analyse der Errichtung einer visuellen Ordnung mit Realitätseffekten während der Kolonisierung von Ägypten.

 

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