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Hefte
SozSys 2 (1996), H.2
Zusammenfassungen

 

Zusammenfassungen

Gunther Teubner:
Des Königs viele Leiber: Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts  (Vollständiger Artikel)

Der Beitrag verbindet zwei rechtssoziologische Diskussionsstränge miteinander: (1) den empirischen Befund neuer "spontaner" Rechtsbildungen im Rahmen der Globalisierung des Rechts und (2) die Unterminierung der Normenhierarchie des Rechts durch eine neuere "dekonstruktive" Rechtstheorie. These des Beitrags ist, daß die Rechtshierarchie älteren und neueren Dekonstruktionsversuchen erfolgreich widerstanden hat und daß erst die Globalisierung des Rechts die traditionelle Normenhierarchie politisch-staatlichen Rechts dadurch wirksam zerstört, daß sie massenhaft Normen eines globalen Rechts ohne Staat, eine selbstgeschaffenen Rechts der Weltgesellschaft ohne nationalstaatliche oder völkerrechtliche Institutionalisierung, hervorbringt. Hieraus wird die Kritik an der dekonstruktiven Theorie des Rechts entwickelt: diese nimmt die historischen Bedingungen der Dekonstruktion von Rechtsinstitutionen nicht zur Kenntnis. Demgegenüber käme es darauf an, die Dekonstruktion der Rechtshierarchie in dem Sinne weiterzutreiben, daß nach neuen post-konstruktivistischen Differenzen gesucht wird, die in der neuen historischen Lage einer doppelt fragmentierten Weltgesellschaft Plausibilität beanspruchen können. Der Beitrag skizziert die Umrisse eines in dieser Situation sich abzeichnenden "polykontexturalen Rechts".

Urs Stäheli:
Der Code als leerer Signifikant? Diskurstheoretische Betrachtungen

Das Problem der Einheitsbezeichnung von Systemen wird in der Luhmannschen Systemtheorie und in der dekonstruktivistisch orientierten Laclauschen Diskurstheorie auf unterschiedliche Weise operationalisiert. Gemeinsam ist beiden, daß sie darauf verzichten, auf außersystemische Instanzen als Einheitsgaranten zu rekurrieren (Post-Foundationalism). In der Systemtheorie übernimmt in Funktionssystemen der Code die Funktion eines Einheitssubstituts, in der Diskurstheorie der leere Signifikant. Indem das systemtheoretische Konzept des Codes von der Diskurstheorie her beobachtet wird, soll argumentiert werden, daß der Ort der Einheitssubstitution zu unstabil für eine feste Besetzung ist. Aufgezeigt wird, wie die Systemtheorie den Ort des leeren Signifikanten ‘absichert’ und so die supplementäre (Derrida) Beziehung zwischen Programm und Code auf ein Verhältnis gegenseitiger Ergänzung reduziert.

Marcus Hahn:
Vom Kopfstand des Phonozentrismus auf den Brettern der Systemtheorie oder: Luhmann und/oder Derrida – einfach eine Entscheidung? Anmerkungen zu Die Form der Schrift von Niklas Luhmann

Der Aufsatz fokussiert das Verhältnis zwischen Systemtheorie und Dekonstruktion, indem er Niklas Luhmanns Bezugnahmen auf Jacques Derrida am Beispiel des Luhmannschen Aufsatzes Die Form der Schrift (1993) zu lesen (und nicht zu beobachten) versucht. Vor die Alternative gestellt, die Analogie oder die Differenz beider Theorien zu verhandeln, entscheidet er sich für eine Konfrontation. Abschnitt I. thematisiert deshalb die strukturellen Grenzen einer derartigen Konfrontation ebenso wie das Problem der Alternativität zwischen Systemtheorie und Dekonstruktion überhaupt. Abschnitt II. unterzieht Die Form der Schrift einer genauen Lektüre und führt zu dem Ergebnis, daß Luhmann den Phonozentrismus der traditionellen Metaphysik nicht verabschiedet, sondern nur auf den Kopf stellt und daher Derridas Schriftbegriff ausschließen muß. Emblem dieses Ausschlusses sind Luhmanns Ausführungen zur chinesischen Schrift. Daran schließt sich die These an, daß Luhmanns Bezugnahmen auf Derrida sowohl der Neutralisierung als auch der Einschreibung der Dekonstruktion in die Hegemonie der Systemtheorie dienen. In Abschnitt III. wird geschlußfolgert, 1) daß Derrida für die Systemtheorie ein blinder Fleck bleibt; 2) daß weder die Entscheidung der Systemtheorie für die Systemtheorie noch ihr Vorrang vor der Dekonstruktion innerhalb der Systemtheorie begründet werden kann; 3) daß diese Entscheidung demzufolge ein Geheimnis darstellt – wie die Entscheidung des vorliegenden Aufsatzes, sich für die Dekonstruktion zu entscheiden.

Niklas Luhmann:
Zeit und Gedächtnis

Die übliche Theorie des Gedächtnisses bezieht sich auf den neurobiologischen Apparat und das Bewußtsein des Individuums. Selbst Kollektivgedächtnis ist gedacht als Gedächtnis von Individuen. Der nachfolgende Aufsatz schlägt eine allgemeine Theorie des Gedächtnisses vor, die auch direkt auf soziale Systeme angewandt werden kann. Eine Gedächtnisfunktion wird benötigt, wenn operativ geschlossene Systeme Selbstreferenz einschließen. Solche Systeme müssen ihre Vergangenheit als erworbene Gegenwart repräsentieren, um in der Lage zu sein, auch die Zukunft in die Gegenwart zu integrieren. Das Gedächtnis der Gesellschaft benutzt einerseits die Topographie des Raumes, in dem sie sich realisiert, und andererseits Sprache sowie soziale Schemata ("frames", Skripts), die als bekannt vorausgesetzt werden können. Die Gedächtnisse der Funktionssysteme benutzen spezialisierte Mechanismen wie zum Beispiel Zensuren in Schulen oder das Rechnungswesen in Unternehmen, das Kreditbeziehungen repräsentiert.

Stefanie Hanke:
Weiß die Weltbank, was sie tut?

Über den Umgang mit Unsicherheit in einer Organisation der Entwicklungsfinanzierung Die Weltbank ist die größte Organisation der Entwicklungsfinanzierung und vergibt seit nunmehr fünfzig Jahren Darlehen an Entwicklungsländer in der ganzen Welt. In dieser Zeit geriet sie oft ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik: ihr wurde der Vorwurf gemacht, ihr eplizites Ziel - die Überwindung der Armut - weniger denn je zu erreichen. Tatsächlich kann oft ein spektakuläres Scheitern der von ihr finanzierten Großprojekte beobachtet werden. Der Beitrag zeichnet in Abgrenzung zu "kritischen", die Ziele der Organisation dabei aber umstandslos ratifizierenden Ansätzen, ein Bild von der Weltbank, welches nicht davon ausgeht, daß sie eine rationale Organisation im Dienste der Überwindung der Armut ist und dann scheitert, wenn sie diesem Anspruch nicht genügt. Viel mehr geht es darum, die Weltbank als selbstreferentiell geschlossenes soziales System zu beschreiben, welches den eigenen Systembestand in einer unsicheren Umwelt erfolgreich sichert. Die Weltbank muß widersprüchlichen Anforderungen aus der Umwelt genügen und hat dazu eine elaborierte Technologie entwickelt, die sie als Entwicklungsorganisation ausweist und die es gleichzeitig ermöglicht, trotz eines offensichtlichen Mangels an Projekten, die dieser Technologie genügen, Geld in Entwicklungsländer zu transferieren: indem sie sich ihre eigenen Projekte konstruiert. Dies geschieht durch eine Abkopplung der Geldvergabe von den eigenen formalen Bedingungen. Was dabei dann als Nebenprodukt erzeugt wird, kann zur Überwindung von Armut beitragen - oder aber nicht.

André Brodocz:
Strukturelle Kopplung durch Verbände

Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie unterscheidet drei Typen sozialer Systeme: Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Dieser Artikel schließt an die neuere Diskussion zum Verhältnis von Organisation und Gesellschaft an. Er vertritt die These, daß Verbände zur strukturellen Kopplung der Politik mit anderen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft genutzt werden. Die Umweltverbände sind dabei ein besonderer Fall, weil die ökologische Umwelt kein Funktionssystem der Gesellschaft darstellt, so daß es sich hierbei um eine fiktive strukturelle Kopplung von Politiksystem und imaginiertem Ökosystem handelt. Ein anderer besonderer Fall sind die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, die als einzige dauerhaft in einen Konflikt eingelagert sind. Dem folgt eine Betrachtung zur Bedeutung der Spezifik einer strukturellen Kopplung durch Verbände, welche zugleich immer auch Organisationen sind. Mit der Wiederaufnahme einer alten Frage: "Herrschaft der Verbände?" schließt dieser Text.

Michael Meyer / Ali Al-Roubaie:
Organisation der Kunst.

Wie Kulturorganisationen Redundanz sichern und Umwelt beobachten Die Luhmannsche Organisationstheorie weist Kommunikationswegen, Personen und Entscheidungsprogrammen eine entscheidende Rolle bei der Redundanzsicherung von Organisationen zu. Es wurde untersucht, ob dieser Ansatz in der Sozial-, Sach- und Zeitdimension empirisch zu erhärten ist. Qualitative Inhalts- und Textanalysen der narrativen Interviews von acht KulturmanagerInnen ergaben, daß Personen und Zeitstrukturen insgesamt eine zentrale Rolle einnehmen. Programme erwiesen sich von vergleichsweise geringer Bedeutung. Selbstbezug und Projekte stehen im Zentrum der sozialen Repräsentationen von KulturmanagerInnen. Große Kulturorganisationen sichern Redundanz vornehmlich über Kommunikationswege und Stellen, kleine Kulturorganisationen hingegen eher über Termine und sachliche Bewertungen. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit einem systemtheoretischen Organisationsmodell.

 

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