Der Beitrag verbindet zwei rechtssoziologische Diskussionsstränge
miteinander: (1) den empirischen Befund neuer "spontaner"
Rechtsbildungen im Rahmen der Globalisierung des Rechts und (2)
die Unterminierung der Normenhierarchie des Rechts durch eine neuere
"dekonstruktive" Rechtstheorie. These des Beitrags ist,
daß die Rechtshierarchie älteren und neueren Dekonstruktionsversuchen
erfolgreich widerstanden hat und daß erst die Globalisierung des
Rechts die traditionelle Normenhierarchie politisch-staatlichen
Rechts dadurch wirksam zerstört, daß sie massenhaft Normen eines
globalen Rechts ohne Staat, eine selbstgeschaffenen Rechts der Weltgesellschaft
ohne nationalstaatliche oder völkerrechtliche Institutionalisierung,
hervorbringt. Hieraus wird die Kritik an der dekonstruktiven Theorie
des Rechts entwickelt: diese nimmt die historischen Bedingungen
der Dekonstruktion von Rechtsinstitutionen nicht zur Kenntnis. Demgegenüber
käme es darauf an, die Dekonstruktion der Rechtshierarchie in dem
Sinne weiterzutreiben, daß nach neuen post-konstruktivistischen
Differenzen gesucht wird, die in der neuen historischen Lage einer
doppelt fragmentierten Weltgesellschaft Plausibilität beanspruchen
können. Der Beitrag skizziert die Umrisse eines in dieser Situation
sich abzeichnenden "polykontexturalen Rechts".
Urs Stäheli:
Der Code als leerer Signifikant? Diskurstheoretische Betrachtungen
Das Problem der Einheitsbezeichnung von Systemen wird in der Luhmannschen
Systemtheorie und in der dekonstruktivistisch orientierten Laclauschen
Diskurstheorie auf unterschiedliche Weise operationalisiert. Gemeinsam
ist beiden, daß sie darauf verzichten, auf außersystemische Instanzen
als Einheitsgaranten zu rekurrieren (Post-Foundationalism). In der
Systemtheorie übernimmt in Funktionssystemen der Code die Funktion
eines Einheitssubstituts, in der Diskurstheorie der leere Signifikant.
Indem das systemtheoretische Konzept des Codes von der Diskurstheorie
her beobachtet wird, soll argumentiert werden, daß der Ort der Einheitssubstitution
zu unstabil für eine feste Besetzung ist. Aufgezeigt wird, wie die
Systemtheorie den Ort des leeren Signifikanten absichert
und so die supplementäre (Derrida) Beziehung zwischen Programm und
Code auf ein Verhältnis gegenseitiger Ergänzung reduziert.
Marcus Hahn:
Vom Kopfstand des Phonozentrismus auf den Brettern der Systemtheorie
oder: Luhmann und/oder Derrida einfach eine Entscheidung?
Anmerkungen zu Die Form der Schrift von Niklas Luhmann
Der Aufsatz fokussiert das Verhältnis zwischen Systemtheorie und
Dekonstruktion, indem er Niklas Luhmanns Bezugnahmen auf Jacques
Derrida am Beispiel des Luhmannschen Aufsatzes Die Form der Schrift
(1993) zu lesen (und nicht zu beobachten) versucht. Vor die Alternative
gestellt, die Analogie oder die Differenz beider Theorien zu verhandeln,
entscheidet er sich für eine Konfrontation. Abschnitt I. thematisiert
deshalb die strukturellen Grenzen einer derartigen Konfrontation
ebenso wie das Problem der Alternativität zwischen Systemtheorie
und Dekonstruktion überhaupt. Abschnitt II. unterzieht Die Form
der Schrift einer genauen Lektüre und führt zu dem Ergebnis, daß
Luhmann den Phonozentrismus der traditionellen Metaphysik nicht
verabschiedet, sondern nur auf den Kopf stellt und daher Derridas
Schriftbegriff ausschließen muß. Emblem dieses Ausschlusses sind
Luhmanns Ausführungen zur chinesischen Schrift. Daran schließt sich
die These an, daß Luhmanns Bezugnahmen auf Derrida sowohl der Neutralisierung
als auch der Einschreibung der Dekonstruktion in die Hegemonie der
Systemtheorie dienen. In Abschnitt III. wird geschlußfolgert, 1)
daß Derrida für die Systemtheorie ein blinder Fleck bleibt; 2) daß
weder die Entscheidung der Systemtheorie für die Systemtheorie noch
ihr Vorrang vor der Dekonstruktion innerhalb der Systemtheorie begründet
werden kann; 3) daß diese Entscheidung demzufolge ein Geheimnis
darstellt wie die Entscheidung des vorliegenden Aufsatzes,
sich für die Dekonstruktion zu entscheiden.
Niklas Luhmann:
Zeit und Gedächtnis
Die übliche Theorie des Gedächtnisses bezieht sich auf den neurobiologischen
Apparat und das Bewußtsein des Individuums. Selbst Kollektivgedächtnis
ist gedacht als Gedächtnis von Individuen. Der nachfolgende Aufsatz
schlägt eine allgemeine Theorie des Gedächtnisses vor, die auch
direkt auf soziale Systeme angewandt werden kann. Eine Gedächtnisfunktion
wird benötigt, wenn operativ geschlossene Systeme Selbstreferenz
einschließen. Solche Systeme müssen ihre Vergangenheit als erworbene
Gegenwart repräsentieren, um in der Lage zu sein, auch die Zukunft
in die Gegenwart zu integrieren. Das Gedächtnis der Gesellschaft
benutzt einerseits die Topographie des Raumes, in dem sie sich realisiert,
und andererseits Sprache sowie soziale Schemata ("frames",
Skripts), die als bekannt vorausgesetzt werden können. Die Gedächtnisse
der Funktionssysteme benutzen spezialisierte Mechanismen wie zum
Beispiel Zensuren in Schulen oder das Rechnungswesen in Unternehmen,
das Kreditbeziehungen repräsentiert.
Stefanie Hanke:
Weiß die Weltbank, was sie tut?
Über den Umgang mit Unsicherheit in einer Organisation der Entwicklungsfinanzierung
Die Weltbank ist die größte Organisation der Entwicklungsfinanzierung
und vergibt seit nunmehr fünfzig Jahren Darlehen an Entwicklungsländer
in der ganzen Welt. In dieser Zeit geriet sie oft ins Kreuzfeuer
der öffentlichen Kritik: ihr wurde der Vorwurf gemacht, ihr eplizites
Ziel - die Überwindung der Armut - weniger denn je zu erreichen.
Tatsächlich kann oft ein spektakuläres Scheitern der von ihr finanzierten
Großprojekte beobachtet werden. Der Beitrag zeichnet in Abgrenzung
zu "kritischen", die Ziele der Organisation dabei aber
umstandslos ratifizierenden Ansätzen, ein Bild von der Weltbank,
welches nicht davon ausgeht, daß sie eine rationale Organisation
im Dienste der Überwindung der Armut ist und dann scheitert, wenn
sie diesem Anspruch nicht genügt. Viel mehr geht es darum, die Weltbank
als selbstreferentiell geschlossenes soziales System zu beschreiben,
welches den eigenen Systembestand in einer unsicheren Umwelt erfolgreich
sichert. Die Weltbank muß widersprüchlichen Anforderungen aus der
Umwelt genügen und hat dazu eine elaborierte Technologie entwickelt,
die sie als Entwicklungsorganisation ausweist und die es gleichzeitig
ermöglicht, trotz eines offensichtlichen Mangels an Projekten, die
dieser Technologie genügen, Geld in Entwicklungsländer zu transferieren:
indem sie sich ihre eigenen Projekte konstruiert. Dies geschieht
durch eine Abkopplung der Geldvergabe von den eigenen formalen Bedingungen.
Was dabei dann als Nebenprodukt erzeugt wird, kann zur Überwindung
von Armut beitragen - oder aber nicht.
André Brodocz:
Strukturelle Kopplung durch Verbände
Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie unterscheidet drei
Typen sozialer Systeme: Interaktion, Organisation und Gesellschaft.
Dieser Artikel schließt an die neuere Diskussion zum Verhältnis
von Organisation und Gesellschaft an. Er vertritt die These, daß
Verbände zur strukturellen Kopplung der Politik mit anderen Funktionssystemen
der modernen Gesellschaft genutzt werden. Die Umweltverbände sind
dabei ein besonderer Fall, weil die ökologische Umwelt kein Funktionssystem
der Gesellschaft darstellt, so daß es sich hierbei um eine fiktive
strukturelle Kopplung von Politiksystem und imaginiertem Ökosystem
handelt. Ein anderer besonderer Fall sind die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände,
die als einzige dauerhaft in einen Konflikt eingelagert sind. Dem
folgt eine Betrachtung zur Bedeutung der Spezifik einer strukturellen
Kopplung durch Verbände, welche zugleich immer auch Organisationen
sind. Mit der Wiederaufnahme einer alten Frage: "Herrschaft
der Verbände?" schließt dieser Text.
Michael Meyer / Ali Al-Roubaie:
Organisation der Kunst.
Wie Kulturorganisationen Redundanz sichern und Umwelt beobachten
Die Luhmannsche Organisationstheorie weist Kommunikationswegen,
Personen und Entscheidungsprogrammen eine entscheidende Rolle bei
der Redundanzsicherung von Organisationen zu. Es wurde untersucht,
ob dieser Ansatz in der Sozial-, Sach- und Zeitdimension empirisch
zu erhärten ist. Qualitative Inhalts- und Textanalysen der narrativen
Interviews von acht KulturmanagerInnen ergaben, daß Personen und
Zeitstrukturen insgesamt eine zentrale Rolle einnehmen. Programme
erwiesen sich von vergleichsweise geringer Bedeutung. Selbstbezug
und Projekte stehen im Zentrum der sozialen Repräsentationen von
KulturmanagerInnen. Große Kulturorganisationen sichern Redundanz
vornehmlich über Kommunikationswege und Stellen, kleine Kulturorganisationen
hingegen eher über Termine und sachliche Bewertungen. Diese Ergebnisse
stehen im Einklang mit einem systemtheoretischen Organisationsmodell.
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