Soziale Systeme 4 (1998), H.2,
S. 315-340
Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik
Urs Stäheli
Zusammenfassung: Das Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik
wird in Luhmanns Werk meist als eine indirekte Anpassung der Semantik
an die Sozialstruktur beschrieben. In einem ersten Teil des Aufsatzes
wird gefragt, wie Luhmann diese ,lineare Nachträglichkeit
der Semantik in der allgemeinen Theorieanlage verankert. Eine derartige
Relationierung bleibt aber teilweise den von Luhmann verworfenen
marxistischen und wissenssoziologischen Modellen von Semantik und
Kultur verpflichtet, da auch hier die Sozialstruktur als ein der
Semantik Äußerliches vorausgesetzt wird. Diskutiert werden soll,
ob und wie eine derartige Annahme mit der allgemeinen Theoriearchitektur
kompatibel ist. Dabei stehen zwei mögliche Einbettungen, die von
Luhmann vorgeschlagen werden, im Vordergrund: zum einen der Bezug
auf den allgemeinen Strukturbegriff, zum anderen der Versuch einer
beobachtungstheoretischen Verankerung. Im zweiten Teil wird
ausgehend von den Problemen, die eine grundbegriffliche Verankerung
der Sozialstruktur/Semantik-Unterscheidung produziert ein
alternatives Modell von Nachträglichkeit vorgeschlagen. Informiert
durch die psychoanalytische Figur der Nachträglichkeit kann das
Verhältnis von Semantik und Sozialstruktur flexibler organisiert
und die konstitutive Rolle von Beschreibungen für das durch sie
Beschriebene gedacht werden.
Warum, so fragt Luhmann (1995a,
171) in einem Aufsatz zur Semantik der Postmoderne, soll man
sich überhaupt mit einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung beschäftigen,
die kaum versucht, Realitäten auf der operativen und strukturellen
Ebene sozialer Kommunikation zu berücksichtigen. Der euphorische
Abschied von der Moderne, so wird kritisch eingewendet, verkennt,
daß sich sozialstrukturell keine epochalen Veränderungen
festmachen lassen. Mich interessiert diese Aussage hier nicht hinsichtlich
des unfruchtbaren Streits, ob die Moderne ihr Ende gefunden habe
und woran man das letztlich feststellen kann. Vielmehr geht es um
die begrifflichen Annahmen, die Luhmanns Frage nach der Realität
der Postmoderne organisieren. Um die Semantik der Postmoderne zu
kritisieren, muß sie ihrer Gegenseite gegenübergestellt werden.
Die Gesellschaft wird hier also in zwei unterschiedliche Bereiche
aufgeteilt: zum einen in Beschreibungen, die häufig andere Beschreibungen
beschreiben, zum anderen in eine "sozialstrukturelle-operative"
Ebene, auf der Entwicklungen stattfinden, für deren Beschreibung
die Semantik sich trotz ihrer postmodernen Geschwätzigkeit als eigentümlich
begriffslos erweist.
Welche Beziehung besteht zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung
von Sozialstruktur und Semantik? Und wie werden diese Beziehungen
begründet? Ich möchte das Problem gerne anhand von zwei weiteren
Beschreibungen von Semantiken vertiefen. Zuvor sei angemerkt, daß
mich hier Semantik als Selbstbeschreibung von Funktionssystemen
(und nicht der gesamte Fundus von semantischen Formen) interessiert.
Dabei muß es sich nicht notwendigerweise um Reflexionstheorien handeln,
sondern es geht um den allgemeineren Bereich der Identitätsbezeichnungen
von Systemen(1). In die Kunst
der Gesellschaft betont Luhmann (1995b,
393f.), daß das Kunstsystem nicht wissen muß, was Kunst ist,
um Kunst herzustellen. Vielmehr schließen Kunstwerke, die als basale
Operationen des Kunstsystems definiert sind, an Kunstwerke an. Die
Semantik des Kunstsystems versucht zu beschreiben, was das System
tut und stellt nachträglich fest, daß die vergangenen Operationen
Kunst gewesen sind. Man könnte die Rolle der Semantik als Begriffsarbeit
bestimmen, die das Unbegriffliche auf den Begriff bringt. Es handelt
sich hier jedoch nicht um die Entfaltung eines latenten Wesens der
Kunst, sondern um stets kontingente Selbstbeschreibungen, die von
keiner ,Essenz des Systems gestützt werden.
Schaut man sich Luhmanns Bemerkungen in Soziale Systeme
zum politischen System an, dann stößt man auf eine zweite Konzeption
des Verhältnisses von Sozialstruktur und Semantik. Hervorgehoben
wird hier, daß nicht jede Machtoperation automatisch dem politischen
System zugeordnet werden kann, da z.B. auch Organisationen das Machtmedium
verwenden. Mächtige Operationen mögen zwar andere mächtige Operationen
erkennen; sie erweisen sich aber als defizient, wenn es darum geht,
spezifische politische Macht zu identifizieren. Aus diesem Grund
erhält im politischen System die Semantik des Staates eine zentrale
Rolle, da sie "ähnlich wie im Falle von Geld, zur mitlaufenden
Sinnverweisung aller Operationen" wird. Erst sie ermöglicht
jene Geschlossenheit, die etwa im Wirtschaftssystem das symbolisch
generalisierte Medium von sich aus zu leisten imstande ist (Luhmann
1984, 627). Müßte das politische System auf die Staatssemantik
(oder ein semantisches Äquivalent) verzichten, würde es in unerträgliche
Verwirrungen geraten, da ihm das Abgrenzungskriterium zu anderen
Machtformen fehlte(2). Im Gegensatz
zum Kunstsystem scheint das politische System also wissen zu müssen,
wie es sein eigenes Tun beschreiben kann, um seine Autopoiesis fortsetzen
zu können(3).
Das hier interessierende Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik
wird in den obigen Beispielen unterschiedlich konzipiert. Die ersten
beiden Fälle die postmoderne Semantik und die Selbstbeschreibung
des Kunstsystems verweisen darauf, daß die Semantik auf etwas
bereits Existierendes Bezug nehmen muß. Die Semantik befindet sich
in einer Situation ,linearer Nachträglichkeit. Linearität
meint hier nicht, daß sich eine Semantik bruchlos aus der Gesellschaftsstruktur
ableiten ließe, sondern eine chrono-logische Nachordnung
der Semantik gegenüber sozialstruktureller Prozesse. Diese Nachordnung
schließt für die Systemtheorie, wie noch ausgeführt wird, keineswegs
aus, daß es empirisch zu semantischen ,Voranpassungen
kommen mag. Ausschlaggebend für die Bestimmung ,linearer Nachträglichkeit
ist die argumentationslogische (und nicht notwendigerweise empirische)
Nachordnung der Semantik. Während also die Semantik der Postmoderne
und die des Kunstsystems von Luhmann im Modus der ,linearen Nachträglichkeit
eingeführt werden, erweist sich die Semantik beim politischen System
als konstitutiv für die Genese jener mächtiger Operationen, die
sie später erst als Staat beschreiben wird. Wie verhalten sich die
beiden Argumente einer ,linearen Nachträglichkeit einerseits,
und andererseits der konstitutiven Rolle von Semantik zueinander?
Um diesem Problem genauer nachzugehen, werde ich zunächst das in
der Systemtheorie dominante Modell der ,linearen Nachträglichkeit
der Semantik darstellen (I). Dies führt mich zur Frage, wie eine
derartige Relationierung der Gesellschaftsstruktur/Semantik-Unterscheidung
innerhalb der Systemtheorie grundbegrifflich abgestützt wird, bzw.
ob sie sich in der allgemeinen Theorie verankern läßt. Hierbei interessieren
v.a. zwei konzeptuelle Verbindungen: zum einen die Rolle des Strukturbegriffs,
der in der Bezeichnung ,Gesellschaftsstruktur prominent hervorgehoben
wird (II), zum anderen der Versuch einer beobachtungstheoretischen
Grundlegung. Gerade letzteres scheint für Luhmann angesichts der
beobachtungstheoretischen Reformulierung der Systemtheorie ein attraktives
Unternehmen darzustellen. Gleichzeitig ergeben sich aber schwerwiegende
theoretische Probleme, wenn man versucht, die lineare Nachträglichkeit
der Semantik auf diese Weise zu begründen (III). Diese Diskussion
dient als Grundlage für die Skizzierung eines alternativen Verständnisses
der Nachträglichkeit von Selbstbeschreibungen. Vorgeschlagen wird,
einerseits mit der Asymmetrisierung der Unterscheidung flexibler
umzugehen, andererseits die konstitutive Rolle von Semantiken der
Selbstbeschreibung für die systemische Autopoiesis zu denken (IV).
I. Zur Asymmetrie der Sozialstruktur/ Semantik-Unterscheidung(4)
Die Universalität der Systemtheorie zeigt sich nicht zuletzt in
ihrer Fähigkeit, Begriffe aus unterschiedlichsten disziplinären
und theoretischen Kontexten in ihren eigenen Theoriehorizont einzuschreiben.
Auch der Begriff der Semantik gehört zu diesen Importen: Von der
Begriffsgeschichte(5) wurde er
über die Eingangstür der Evolutionstheorie in die Systemtheorie
eingelassen. Als andere Seite der sozialstrukturellen Evolution
sorgt die Semantik für die Sichtbarkeit der Evolution, ohne in ihre
Logik maßgeblich einzugreifen.
Die Begriffsgeschichte hält dem linguistic turn wichtiger
Bereiche der Geschichtswissenschaft entgegen, daß die Unterscheidung
von historischen Ereignissen und ihrer linguistischer Erfassung
nicht aufgegeben werden darf (Koselleck
1989). Nur so könne der kritische Anspruch der Begriffsgeschichte
erfüllt werden, den Unterschied zwischen der "Geschichte"
und ihrem "Begriffenwerden" zu ermessen. Die Semantik
wird sozialgeschichtlichen Strukturen gegenübergestellt und indiziert
deren Veränderungen; gleichzeitig kann sie aber auch als "Faktor"
eine konstitutive Funktion (etwa für die Bildung sozialer und politischer
Identitäten) im historischen Prozeß übernehmen.
Luhmann knüpft explizit an das Programm der Begriffsgeschichte
an(6) und paßt den Begriff der
Semantik an seine allgemeine Theoriearchitektur an. Der für die
Systemtheorie reformulierte Semantikbegriff beschreibt nun Formen
"höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig
verfügbaren Sinn(s)" (Luhmann
1980, 19). In erster Linie wird dabei das Konvolut "bewahrenswerten
Sinnes" analysiert, das für die Selbstbeschreibung von System
verwendet wird. Während die Begriffsgeschichte noch an zwei ontologisch
zu unterscheidenden Sphären von historischen Ereignissen und Sprache
festhielt(7), fundiert die Systemtheorie
sowohl Sozialstruktur wie auch Semantik im gemeinsamen Sinnmedium.
Damit wird ein bereits grundbegrifflich angelegtes Ableitungsverhältnis
vermieden, handelt es sich doch beide Male um Formen des Prozessierens
von Sinn. Luhmann (1980, 20) betont deshalb, daß Begriffe keineswegs
"einen geringeren Grad an Realität aufweisen als das elementare
Prozessieren von Sinn". Die Letztfundierung der Sozialstruktur/Semantik-Unterscheidung
im Sinnmedium stellt die Kompatibilität zur Kommunikations- und
Systemtheorie sicher(8). Mit dieser
theoretischen Entscheidung ist die Grundlage dafür gelegt, unfruchtbaren
Dichotomien wie jene von materieller Praxis und symbolischer Codifizierung
zu entgehen(9). Gleichzeitig hält
Luhmann jedoch an der begriffsgeschichtlichen Fragestellung fest,
die Semantiken als Verarbeitungsformen sozialstruktureller Veränderungen
analysiert.
Die so aufbereitete Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und
Semantik stellt Luhmann theoretischen Konkurrenzunternehmen gegenüber.
Dem marxistischen Versuch, Basis und Überbau zu relationieren, wird
die Fixierung auf den Klassenbegriff und Ökonomismus vorgeworfen.
Statt dessen wird von einer heterarchischen Vielfalt von Systemtypen
ausgegangen, die eine einseitige Determinierung durch die Ökonomie
ausschließt. Verworfen wird auch das repräsentationale Modell der
klassischen Wissenssoziologie (Luhmann
1995c), das von einer dem Wissen vorgelagerten Außenwelt ausgeht
und Wissen letztlich durch seine Korrelation zu dieser ,Realität
bestimmt. Dennoch wird aber von Luhmann die Korrelierung von Semantik
auf ein ihr Äußeres beibehalten, wenngleich dieses nun nicht mehr
über den Status einer außersinnhaften Wirklichkeit verfügt. Die
Notwendigkeit, an einem Außen der Semantik festzuhalten, macht für
Luhmann auch die Foucaultsche Diskursanalyse uninteressant, da sie
nicht erklären könne, wie Diskurse ihre Kraft über das soziale Leben
ausüben. Die Systemtheorie dagegen erklärt die Entstehung und Relevanz
einer bestimmten Semantik durch ihre "Kompatibilität mit der
Sozialstruktur" (Luhmann
1986a, 5) und verschiebt damit das Problem von der Immanenz
der Diskurse auf den Einfluß einer ihr vorgelagerten Instanz. Luhmanns
formale Argumentationslogik bleibt dabei näher bei neo-marxistischen
Argumenten, als sich zunächst vermuten läßt. So erhält man eine
systemtheoretisch sinnvolle Aussage durch einige ,semantische
Veränderungen einer Aussage von Stuart Hall zum Verhältnis von Klassenbeziehungen
und Kultur: "Funktionale Differenzierung verschwindet nicht
einfach, weil sich eine bestimmte historische Semantik, mit welcher
die Differenzierungsform zu einer bestimmten Zeit beobachtet wird,
verändert".(10)
Die von Foucault (1973, 14)
favorisierte archäologische Diskursanalyse unterscheidet zwischen
,Dokumenten als zu entziffernde Spuren einer tiefergelegten
Geschichte und ,Monumenten, die nicht als Hinweis auf anderes,
sondern in ihrer Oberflächenstrutkur und Verteilung interessieren.
Die archäologische Diskursanalyse wendet sich gegen die hermeneutische
Interpretationen von Dokumenten, die nach ihrem ,Ausdruckswert
einer Essenz fragt. Statt dessen beschäftigt der diskursanalytische
Archäologe sich mit Momumenten und beschreibt Streuungsformen und
Serien diskursiver Ereignisse. Entgegen dem "glücklichen Positivismus"
der Foucaultschen Diskursanalyse hält die Systemtheorie an einem
Modell dokumentarischer Lektüre fest. Denn Semantik interessiert
hier immer hinsichtlich ihres Ausdruckswerts und der Visibilisierung
der ,eigentlichen Gesellschaftsstrukturen.
Das bedeutet nicht, daß Gesellschaftsstruktur und Semantik sich
immer in Einklang befinden müssen. Semantiken produzieren häufig
preadaptive advances, die der sozialstrukturellen Entwicklung
vorauseilen. Derartige preadaptive advances stellt Luhmann
(1997a, 512) v.a. bei Veränderungen
der Verbreitungsmedien (z.B. die Einführung der Schrift) und bei
semantischen Errungenschaften wie der leidenschaftlichen Liebe fest.
Die Beschreibung solcher Errungenschaften bleibt jedoch eigentümlich
begriffslos: Vorentwicklungen begünstigen und ermöglichen neue evolutionäre
Errungenschaften, ohne daß angegeben wird, wie ein derartiger Prozeß
funktioniert. Dieses Denkmodell bleibt letztlich der Figur der Anpassung
verpflichtet, für die noch ungedeckte semantische Formen nur deshalb
von Interesse sind, weil sie in Zukunft an die Gesellschaftsstruktur
angepaßt sein werden. Begrifflich ist nur die Gesellschaftsstruktur
so positioniert, daß sie die Dauerhaftigkeit von semantischen Variationen
zu sichern vermag: "Plausibilität oder gar Evidenz läßt sich
für semantische Strukturen nur gewinnen, wenn hinreichend deutlich
ist, auf welche Änderungen in der Sozialstruktur eine Änderung in
der Begrifflichkeit reagiert" (Luhmann
1997a, 550). Evidenz wird also durch den Ausdruckswert
von semantischen Formen gewonnen und nicht durch die innere Struktur
und Organisation der Semantik.
Im Zuge dieser Argumentation verwirft Luhmann (1997a,
556) die Möglichkeit einer Ideenevolution, die fähig wäre, eigenständig
gesellschaftliche Differenzierungstypen herauszubilden, da die Ideenevolution
ihre Evidenz- und Plausibilitätskriterien (und damit Selektionsentscheidungen)
nur von der sozialstrukturellen Evolution beziehen kann. Besonders
deutlich wird dies, wenn Luhmann apodiktisch festhält, daß die Ideenevolution
selbst nicht zur Epocheneinteilung befähigt ist: "Wenn man
nachträglich geschichtliche Einteilungen dieser Art rekonstruieren
kann, so liegt das ausschließlich an der sozialstrukturellen
Evolution, und zwar genauer an der Dominanz bestimmter Differenzierungstypen"
(Luhmann 1997a, 556; Hervorhebung
US). Denn die Semantik "beobachtet nur, was in der
gesellschaftlichen Autopoiesis produziert wird". Luhmann geht
zwar davon aus, daß die Ideenevolution nicht immer deckungsgleich
mit der sozialstrukturellen Evolution funktioniert. Deren Eigenständigkeit
ist aber dadurch beschränkt, daß sie nur die Variation von Ideen
endogen produzieren kann, nicht aber bestimmte Ideen als bewahrenswert
zu fixieren vermag.
Luhmanns ,dokumentarischer Begriff der Semantik asymmetrisiert
die Fähigkeit zur Eigenevolution und die zunächst noch nicht vorentschiedene
Beziehung zwischen Sozialstruktur und Semantik. Die Hervorhebung
der Kompatibilität von Sozialstruktur und Semantik ließ noch offen,
wer sich an wen anpassen muß. Das evolutionstheoretische Argument
über Plausibilitäts- und Evidenzkriterien trifft jedoch eine folgenreiche
Vorentscheidung: "Eine konsolidierte basale Semantik entsteht
typischerweise nur nach der Entwicklung einer Differenzierungsform"
(Luhmann 1980, 39). Ganz ähnlich
formuliert Luhmann auch später (1997a, 549), daß Semantiken "von
Sozialstrukturen abhängig (sind), die durch die jeweils dominante
Form der Systemdifferenzierung vorgegeben sind". Die Semantik
wird immer bereits zu spät gewesen sein, da sie erst dann konsolidiert
sein wird, wenn die wichtigen sozialstrukturellen Veränderungen,
die über die Systemdifferenzierung entscheiden, bereits abgeschlossen
sind (Luhmann 1997a, 539).
Daraus ergibt sich auch eines der Hauptprobleme der Semantik: Durch
ihre notwendige Verspätung wird sie konservativ und verkennt oft
wichtige sozialstrukturelle Veränderungen. Aus dem Versuch, das
Neue mit überkommenen Mitteln auszudrücken, resultieren vage Begriffe
(Luhmann 1997a, 550f.). Aber
auch dann, wenn eine Semantik sich nicht als begriffsstutzig erweist
und sich, wie im Falle der Postmoderne, mit endlosen Begriffsspielereien
abgibt, verfällt sie ihrer strukturell angelegten linearen Nachträglichkeit.
Denn die so kreierten Sinnangebote finden keine Entsprechung in
der Sozialstruktur und versuchen eher hilflos, der heterarchischen
Anordnung funktionaler Differenzierung zu entsprechen. Eine ,adäquate
Semantik für die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft ist damit
noch nicht hergestellt, da über ,Adäquanz der ,Realismus
von Semantiken entscheidet.
Die bisherige Diskussion arbeitete zwei zentrale Argumente von
Luhmann heraus, die das Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik
zu erklären versuchen. Erstens verfügen Semantiken wegen ihres geringen
zeitlichen Differenzbewußtseins und wegen ihrer konservierenden
Funktion nur über beschränkte Möglichkeiten, Neues auszudrücken.
Zwar experimentieren auch Semantiken und können so sogar sozialstrukturelle
Veränderungen vorbereiten. Letztlich kommt es aber darauf an, daß
die Semantik die Neuigkeiten der Sozialstruktur zu verarbeiten in
der Lage ist. Zweitens sind Semantiken nicht konstitutiv für das
von ihnen beschriebene System, da dieses bereits vor der
Bezeichnung der systemischen Identität existieren muß. Dieses Argument
verbindet die Annahme der Trägheit der Semantik mit ihrer Rolle
eines Zusatz, der zwar höhere Komplexität ermöglicht, nicht aber
entscheidend für die sozialstrukturell bestimmte Differenzierungsform
des Systems ist. Die beiden Argumente schließen keineswegs empirische
Beschreibungen eines Vorauseilens der Semantik aus. Solche Beschreibungen
werden aber in ihrer theoretischen Bedeutung dadurch relativiert,
daß durch die evolutionstheoretisch einseitige Anordnung von Evidenzkriterien
im Bereich der Sozialstruktur und durch den Anpassungsdruck an die
sozialstrukturellen ,Realität eine systemkonstitutive Rolle
ausgeschlossen ist.(11)
II. Die Strukturalität von Semantik
Wie läßt sich diese Asymmetrie systemtheoretisch begründen? Wird
die Asymmetrie der Nachträglichkeit durch die Vorherrschaft des
Strukturbegriffs auf der Seite der Sozialstruktur gestützt? So zumindest
könnte im Rahmen der ,mainstream Soziologie argumentiert werden:
Die ,harten Sozialstrukturen bestimmen die ,weichen
kulturellen Formen. Legt der Begriff der Sozialstruktur nicht
bereits durch seine Semantik (!) eine derartige Annahme nahe?
Bereits eine flüchtige Luhmann-Lektüre macht deutlich, daß sich
die Beziehung nicht derart einfach bestimmen läßt. Denn sowohl Sozialstruktur
wie auch Semantik sind in einem allgemeiner gefaßten Strukturbegriff
verankert:
Soweit sie [Strukturen] Sinnformen bereithalten, die in der Kommunikation
als bewahrenswert behandelt werden, werden wir bei Gelegenheit auch
von ,Semantik sprechen. Im Folgenden beschränken wir uns jedoch
auf Strukturen, die die Handlungen eines sozialen Systems ordnen,
also auf die Strukturen des Systems selbst. (Luhmann
1984, 382; Hervorhebung US)(12)
Der allgemeine Strukturbegriff kann also sowohl auf Sozialstrukturen
wie auch auf Semantiken angewandt werden, was jeden Versuch, in
der ,Strukturalität der Sozialstruktur ein Abgrenzungskriterium
auszmachen, zum Scheitern verurteilt. Genau genommen haben wir es
deshalb mit der Gegenüberstellung von zwei unterschiedlichen Strukturtypen
zu tun: soziale und semantische Strukturen(13).
Wie können diese beiden Strukturtypen miteinander in Verbindung
gesetzt werden?
Luhmanns Argument für einen allgemeinen Strukturbegriff verweist
auch hier wiederum auf eine Asymmetrisierung. Nur bei Sozialstrukturen
handelt es sich um Strukturen, "die Strukturen dieses Systems
selbst" sind. Die Realität der Sozialstruktur bezieht
ihre Mächtigkeit daraus, daß es sich bei ihr um die ,eigentlichen
Strukturen des Systems handelt, da sie die Handlungen ordnen(14).
Während etwa Sewell (1992, 13)
vorschlägt, soziale und symbolische Strukturen in einem Verhältnis
wechselseitiger Konstitution zu denken, werden in der Systemtheorie
Gesellschaftsstrukturen von Anfang an tiefergelegt, indem diese
über die Differenzierungsform des Systems entscheiden. Nimmt man
aber die Aussage ernst, daß Gesellschaftsstrukturen Handlungen strukturieren,
dann geraten notwendigerweise auch die Strukturen der Systemsemantik
in den Vordergrund. Denn die in Attributionsprozessen verwendete
Figur des Handelnden ist selbst ein semantisches Artefakt, das durch
die Selbstbeschreibung eines Kommunikationssystems als Handlungssystem
erzeugt wird (Luhmann 1984, 231).
Die Verbindung von Semantik und Handlung wird auch von Luhmann (1984,
22) hervorgehoben:
Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert. Sie kommen
dadurch zustande, daß Selektionen, aus welchen Gründen, in welchen
Kontexten und mit Hilfe welcher Semantiken (,Absicht, ,Motiv,
,Interesse) immer, auf Systeme zugerechnet werden. (...) Was
eine Einzelhandlung ist, läßt sich deshalb nur auf Grund einer sozialen
Beschreibung ermitteln.
Was im folgenden auf dem Spiel steht, ist die Bedeutung von "mit
Hilfe". Es soll argumentiert werden, daß Semantiken nicht
nur als ermittlungstechnisches Hilfsmittel dienen, sondern für die
Herstellung von Handlungen konstitutiv sind. Dies bietet sich deshalb
an, weil die Systemtheorie den Kommunikationsbegriff dem der Handlung
vorordnet. Es kann deshalb nicht um eine ,Ermittlung von Handlungsereignissen
gehen, denn dies würde voraussetzen, daß Kommunikationen notwendigerweise
Handlungen sind. Vielmehr wird die Kommunikation erst durch die
entsprechende Semantik zur Handlung. Die von der Sozialstruktur
zu ordnenden Elemente müssen kultur- und systemspezifisch als Handlungen
ausgeflaggt werden. In der Transformation von Kommunikationen zu
Handlungen ist also bereits die Semantik als Struktur beteiligt,
da sie wiederholbare Handlungsfiguren zur Verfügung stellt.
Wir befinden uns in einer paradoxen Situation: Um Handlungen über
eine Gesellschaftsstruktur ordnen zu können, bedarf es zunächst
der semantischen Herstellung von Handlungen. Die Semantik
von Selbstbeschreibungen ist gleichsam von Anfang an beteiligt an
der Verfertigung und Strukturierung jener Elemente, die sozialstrukturelle
Bedeutsamkeit erlangen sollen. Bei Handlungen handelt es sich nicht
nur um momenthafte Ereignisse, die strukturell verknüpft werden
müssen, sondern um kommunikative Ereignisse, die nur durch den Bezug
auf semantische Strukturen zustande kommen. Im Begriff der Handlung
verzahnen sich der soziale und semantische Strukturbegriff. Die
Strukturen der Semantik spielen für den Aufbau von Erwartungserwartungen
auf sozialstruktureller Ebene eine zentrale Rolle, indem sie Handlungen
mittels wiederholbarer Muster konstituieren.
Es scheint also, daß bereits auf dieser grundlegenden Ebene die
Semantik konstitutiv wird für jene Strukturen, die sie nachträglich
als Sozialstrukturen beobachten wird. Selbstbeschreibungen beziehen
sich in diesem Falle nicht nur auf vergangene Handlungen, sondern
beschreiben als Handlungen artikulierte Kommunikationen, die mit
Hilfe dieser Semantiken produziert worden sind. Die Beschreibung
eines Sozialsystems als eine sozialstrukturelle Ordnung von Handlungen
ist deshalb immer auch eine re-description von durch Beschreibung
zustandegekommenen Handlungen(15).
Diese Rolle der Semantik wird v.a. in Situationen sozialer Transformationen
sichtbar, da hier ein besonderer Bedarf für neue Handlungsmuster
besteht. Die Rolle der Semantik besteht darin, Handlungsmuster bereit
zu stellen und die Wahrscheinlichkeit ihres Gebrauchs zu verstärken
(vgl. Swidler 1986, 283).
Auch wenn man Swidlers individualistischer Argumentationsweise nicht
folgen möchte, so zeigt sie eine wichtige Beziehung zwischen Semantik
und Handlungen auf. Denn auch für soziale Systeme bleibt das Problem
zu lösen, mit welchen Mitteln die Handlungszuschreibung von Kommunikationen
geschieht.
Die Diskussion über governmentality versucht z.B. den Liberalismus
nicht nur als Reflexionstheorie oder Semantik des politischen Systems
zu analysieren, sondern als eine Regierungstechnik, die liberale
Subjekte herstellt (Rose 1996, 39).
Das so produzierte Subjekt des autonomen und selbstverantwortlichen
Staatsbürgers funktioniert als eine der Handlungsfiguren, mit welchen
das politische System Kommunikationen als Handlungen ausflaggt(16).
Während Luhmann dies mit dem Rollenbegriff auf der sozialstrukturellen
Ebene als Herstellung von Erwartungssicherheiten lokalisieren würde,
wird hier der semantische Beitrag zur Herstellung solcher Rollen
hervorgehoben. Der Staatsbürger ist innerhalb einer spezifischen
Semantik artikuliert und widerspiegelt nicht einfach eine sozialstrukturell
vorgegebene Rolle. Indem die Ausflaggung einer Kommunikation als
staatsbürgerliches Handeln auf eine liberal-demokratische Semantik
Bezug nimmt, wird mit semantischen Mitteln die Rolle des Staatsbürgers
hergestellt. Der Aufbau von sozialstrukturellen Strukturen profitiert
bereits von den auf der Ebene der Semantik erzeugten Erwartungssicherheiten.
Die Diskussion des Strukturbegriffs hat gezeigt, daß Luhmann nicht
Strukturalität an sich als Unterscheidungskriterium von semantischen
und sozialen Strukturen benutzt, sondern deren Handlungs- und Erlebensbezug.
Dieses Kriterium läßt sich aber nicht mehr eindeutig bestimmen,
wenn man beachtet, daß eine Kommunikation als Handlung beschrieben
werden muß, um zur Handlung zu werden. Es ist anzunehmen, daß dafür
semantische Ressourcen benutzt werden, die geeignete Handlungsrhetoriken
und -figuren zur Verfügung stellen. Deshalb ist die Semantik bereits
an der Konstitution und Strukturierung jener Elemente, welche die
Sozialstruktur ordnen soll, beteiligt. Dies bedeutet wiederum, daß
die Produktion einer Reihe von Handlungsereignissen nur auf Grund
von semantischen Strukturen möglich ist, die erst Kommunikationen
zu Handlungen machen. Aus strukturtheoretischen Perspektive läßt
sich also das Modell ,linearer Nachträglichkeit nicht absichern,
da semantische Strukturen nicht nur Sozialstrukturen anzeigen, sondern
aktiv an deren Verfertigung beteiligt sind.
III. Die beobachtungstheoretische Reformulierung
Da der Strukturbegriff sich nicht eignet, um den nachgeordneten
Status semantischer Strukturen zu begründen, bietet es sich an zu
überprüfen, wie die Semantik/Sozialstruktur-Unterscheidung sich
zu Luhmanns Beobachtunstheorie verhält. Zudem versteht sich die
Systemtheorie explizit als "poststrukturalistische Theorie"
(Luhmann 1995d, 61), da sie
darauf verzichtet, Systeme in ihren Strukturen zu begründen und
statt dessen Operativität in den Vordergrund rückt. Es überrascht
deshalb kaum, daß Luhmann versucht, die Semantik/Sozialstruktur-Unterscheidung
mit der Beobachtungstheorie zu verbinden. Im folgenden soll gefragt
werden, ob sich diese Unterscheidung auf die Beobachtungstheorie
stützen und theoretisch das Argument der Nachträglichkeit von Semantik
einlösen kann. Oder stehen sich die beiden Theoriefiguren gegenseitig
im Wege?
Die Bedeutung der Beobachtungstheorie für den Begriff der Semantik
zeigt sich in erster Linie in ihrer Nähe zum Begriff der Selbstbeschreibung.
Selbstbeschreibungen beruhen auf dem Gebrauch von kondensierten
und für Mehrfachgebrauch geschaffenen Texte. Im einfachsten Fall
kann es sich hier um den bloßen Namen eines Systems handeln; im
Normalfall bestehen diese aber aus einem Geflecht unterschiedlicher
semantischer Formen. Diese "Sinnvorgaben", welche die
"zu ihnen passenden Selbstbeobachtungen" koordinieren,
werden Semantik genannt (Luhmann
1997a, 887)(17). Bei Semantiken
handelt es sich um Strukturen der Selbstbeobachtung, während Sozialstrukturen
sich auf den Bereich der Operationen beziehen. Die Möglichkeit,
zwischen Operation und Beobachtung zu unterscheiden, macht etwa
für Esposito (1996) geradezu das Soziologische der Systemtheorie(18)
aus. Es lohnt sich, Luhmanns (1997a,
538f.) beobachtungstheoretischen Übersetzungsversuch genau anzuschauen:
Man muß deshalb, im Anschluß an die Unterscheidung zwischen Operation
und Beobachtung, die entsprechenden Strukturen unterscheiden: die
Strukturen der Systemdifferenzierung und die semantischen Strukturen,
die bewahrenswerten Sinn identifizieren, festhalten, erinnern oder
dem Vergessen überlassen(19).
Unterschieden werden hier die operative Ebene der Autopoiesis,
auf welcher die Strukturen der Systemdifferenzierung angesiedelt
sind, und die Beobachtung der Evolutionsresultate auf semantischer
Ebene(20). Die Beobachtungen ruhen
auf einem "autopoietische[n] Strom von Operationen" (Luhmann
1990, 304), der diesen zeitlich und logisch vorgelagert ist.
Da die Beobachtung das autopoietische Operieren voraussetzen muß,
findet sich hier wiederum die Figur der ,linearen Nachträglichkeit.
Nachträglichkeit wird also dadurch impliziert, daß Selbstbeschreibungen
voraussetzen müssen, "daß das System schon vorliegt".
Sie sind deshalb "nie konstitutive, sondern immer nachträgliche
Operationen" (Luhmann 1997a,
883; Luhmann 1995b, 548). Was beschrieben werden soll, muß bereits
vorgefallen sein, sonst würden sich die Beschreibungsoperationen
in einem referenzlosen Raum bewegen, in dem sie sich höchstens noch
auf andere Beschreibungen beziehen könnten. Luhmann (1997a,
556) schließt deshalb aus, daß es eine eigenständige
semantische Evolution geben könne, denn die Semantik beobachtet
nur, was die gesellschaftliche Autopoiesis bereits produziert hat.
Dennoch gestaltet sich die Lage komplizierter als diese erste Gegenüberstellung
von operativer sozialstruktureller und beobachtender semantischer
Ebene vermuten läßt. Indem Luhmann betont, daß es sich bei Beobachtungen
um Operationen handelt, müssen auch die Selbstbeschreibungsversuche
als Operationen gedacht werden. Heißt dies, daß auch Semantiken
als Operationen zur Gesellschaftsstruktur werden? Eine erste Antwort
von Luhmann versucht, das Problem durch Verweis auf seine empirische
Unwichtigkeit zu entschärfen. Die operative Bedeutsamkeit von Selbstbeschreibungen
wird mit ungewohnt quantitativer Argumentation relativiert: Es werden
stets nur einige der Systemoperationen für Selbstbeschreibungszwecke
verwendet, was deren Bedeutung für die Autopoiesis des Systems als
relativ gering veranschlagen läßt (vgl.
Luhmann 1995a, 174; Luhmann 1993, 53f.; Luhmann 1997b, 231).
Das Problem der Operativität von Semantiken ist aber theoretisch
tiefer gelagert. Im Gegensatz zu ,harten autopoietischen Ansätzen
(z.B. Maturana), die der Beobachtung einen gesonderten Bereich zuordnen,
wird bei Luhmann die Beobachtung in den autopoietischen Reproduktionszusammenhang
miteinbezogen (Jokisch 1996, 223ff.;
Teubner 1987). Mit dieser
Entscheidung für die Einfügung von Beobachtung in den operativen
Strom der Autopoiesis wird die klare Aufgliederung des Sozialen
in einen sozialstrukturellen und semantischen Bereich zunehmend
schwieriger. Der systemtheoretische Kompromißvorschlag, die Operativität
von Beobachtungen zu berücksichtigen und gleichzeitig an einer eigenständigen
operativen Ebene der Gesellschaftsstruktur festzuhalten(21),
gerät spätestens dann, wenn er in die Gesellschaftsstruktur/Semantik-Unterscheidung
sozialtheoretisch übersetzt wird, in Probleme. Obwohl Operationen
der Selbstbeschreibung immer auch etwas zur Autopoiesis beitragen,
scheinen diese isolierbar und antworten auf Probleme, die zunächst
nicht die eigenen sind. Würde es sich bei der Semantik tatsächlich
um eine Beobachtung einer bereits vorliegenden, blinden operativen
Verkettung handeln, dann müßte die Semantik auch ihre eigene Operativität
(gewissermaßen ihre Blindheit) als sozialstrukturelle mitbeobachten.
Genau dies scheint aber bei der Verwendung des Semantikbegriffs
nicht der Fall zu sein. Die sozialstrukturellen ,Realitäten
ergeben sich aus dem Zusammenhang von Operationen, die sich auf
das symbolisch generalisierte Medium eines Systems stützen. Deshalb
handelt es sich bei basalen Ereignissen des Systems stets um im
jeweiligen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium codierte
Kommunikation (Luhmann 1988, 52).
Nur in jenen Systemen, wo sich auch die Selbstbeschreibung des symbolisch
generalisierten Mediums bedient, kann diese selbst wiederum zur
basalen Operation des Systems werden. Beim Wissenschaftssystem fügen
sich Selbstbeschreibungen als wissenschaftliche Publikationen in
den Fluß der systemkonstitutiven Operationen problemlos ein(22).
Schwieriger wird es aber beim ökonomischen System: Hayeks Beschreibungen
des freien Marktes müssen zwar auch bezahlt werden, sind aber als
Selbstbeschreibung nicht in der Form der Zahlung an Zahlungen anknüpfbar(23).
An diesem unterschiedlichen Status wird implizit deutlich, daß nicht
alle Kommunikationen eines Systems über den gleichen Stellenwert
verfügen: zum einen gibt es die ,harten autopoietischen Operationen,
zum anderen die ,weichen Beobachtungen, die z.B. für die Konstruktion
von Selbstbeschreibungen benötigt werden. Eine implizite Stoppregel
bestimmt, ob durch die Semantik strukturierte Operationen in ihrer
Operativität zur Sozialstruktur werden können. Diese begründet sich
in der Unterscheidung von einerseits Operationen des symbolisch
generalisierten Mediums, andererseits den meist mit sprachlichen
Mitteln arbeitenden Selbstbeschreibungen. Nur da, wo das symbolisch
generalisierte Medium selbst sprachnah gearbeitet ist, können die
Probleme der ,harten Autopoieten vermieden werden. Erst dann
ist gewährleistet, daß eine abgetrennte Domäne des Beobachters nicht
hinterrücks wieder eingeführt wird, sondern die Selbstbeschreibung
als Teil dessen, was sie beschreibt, fungiert (Luhmann 1997a, 884)(24).
Luhmanns Versuche, die Sozialstruktur/Semantik-Unterscheidung auf
tiefergelegte Unterscheidungen der Systemtheorie zu beziehen, führen
zur Separarierung von zwei ansonsten zusammengedachten Figuren,
was durch die sozialtheoretische Übersetzung der Unterscheidung
von autopoietischer Operation und Beobachtung deutlich wurde. Implizit
werden beide Male zwei unterschiedliche Sphären innerhalb des gleichen
Systems angenommen. Damit wird ausgeschlossen, was grundbegrifflich
denkbar wäre: daß die Selbstbeschreibung das von ihr Beobachtete
konstitutiv affiziert(25). Hiermit
wird also nicht behauptet, daß Luhmann bereits grundbegrifflich
eine derartige Trennung vornehmen würde. Auf der allgemeinen Ebene
der Beobachtungs- und Kommunikationstheorie wird eine derartige
Abschottung geradezu ausgeschlossen. Sobald aber die Semantik als
die Beobachtung bereits vorliegender evolutionärer Ergebnisse aufgefaßt
wird, sobald ihr notwendigerweise eine ,lineare Nachträglichkeit
attestiert wird und sie sich früher oder später dem Druck der Sozialstruktur
beugen muß, wird eine Grenze innerhalb des Systems produziert, die
an die Domäne des Beobachters erinnert(26).
Ich hatte anfangs gefragt, ob die Semantik eine konstitutive Rolle
für soziale Systeme einnimmt. Die Diskussion der Beobachtungstheorie
läßt hier zwei Antworten zu: Erstens mag die Semantik als Operation
zwar konstitutiv sein, ist aber quantitativ unbedeutend. Das zweite
und interessantere Argument begrenzt die konstitutive Rolle von
Semantik durch die implizite Einrichtung eines Bereichs innerhalb
des Systems, der häufig andere Operationstypen verwendet als die
systemische Autopoiesis. Beide Argumente versuchen zwar die Operativität
von Semantik zu beschreiben, begrenzen aber den konstitutiven Einfluß
von Semantik. Ausgeblendet wird dabei, wie Sozialstrukturen durch
die Selbstbeschreibungen eines Systems mitgeschaffen (und nicht
nur vorbereitet) werden. Es ginge also darum, theoretische Figuren
zu entwerfen, welche die konstitutive Rolle von Semantiken für die
Autopoiesis des Systems zu erklären vermögen.
IV. Konstitutive Nachträglichkeit
Das bisher diskutierte Modell der ,linearen Nachträglichkeit
orientierte sich an Thematisierungen der Semantik bei Luhmann, die
ihre Verspätung und zeitliches Hinterherhinken betont haben. Der
Begriff der Nachträglichkeit muß sich aber nicht mit einer derartigen
Bedeutung begnügen. Die Diskussion des Strukturbegriffs wie auch
des Verhältnisses von Operation und Beobachtung verweist darauf,
daß das Verhältnis von Semantik und Sozialstruktur nicht in einem
Verhältnis logischer Nachordnung gefaßt werden kann. Innerhalb der
Systemtheorie ist insbesondere auf kommunikationstheoretischer Ebene
eine Form der Nachträglichkeit problematisiert worden, die über
das Modell ,linearer Nachträglichkeit hinausgeht (vgl.
Fuchs 1995).
Eine Kommunikation konstituiert sich rückwirkend über ihre Beobachtung
als ein Herantragen einer Beobachtungsunterscheidung an eine Operation.
Die Operation selbst ist nur "postobservativ" feststellbar;
ihr "Geschehen-sein" wird im Nachhinein des Ursprungs
erzeugt (Fuchs 1995, 16). Die
Nachträglichkeit der Beobachtung, die in die Struktur von Kommunikation
eingelassen ist, funktioniert als retroaktive Konstitution des vorausgesetzten
Ereignisses. Fuchs Essaytitel "Die Umschrift" verweist
implizit auf die psychoanalytische Herkunft seiner Überlegungen.
Freud schreibt in diesem Zusammenhang: "Ich arbeite mit der
Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung
entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von
Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen,
eine Umschrift erfährt" (zit. in Laplanche/Pontalis
1973, 314).
Am berühmtesten ist in diesem Zusammenhang sicherlich Freuds Analyse
des Wolfmanns, die aufzeigt, wie eine traumatische Verführung erst
Jahre später psychische Wirkungen hervorbringt(27).
Es handelt sich hier um ein verspätetes Verstehen und um die nachträgliche
Entfaltung der Operativität des Verführungsereignisses durch die
Schwester (Freud 1966, 72).
Dieses wiederum wird verdeckt durch die Konstruktion der Urszene
als Beobachtung des elterlichen Koitus. Die Analyse der Traumarbeit
macht deutlich, wie Erinnerungsspuren umgeschrieben werden und dadurch
erst psychische Wirksamkeit entfalten. In unserem Diskussionszusammenhang
ist interessant, daß sich die zeitliche Struktur dieser Nachträglichkeit
grundlegend von der zuvor diskutierten ,linearen Nachträglichkeit
unterscheidet. Zwar wird hier ebenfalls mit zeitlichem Verzug ein
Ereignis beobachtet, diese Beobachtung selbst aber konstituiert
erst die beobachtete Operation in ihrer vollständigen Wirksamkeit.
Beim Wolfsmann tauchen entsprechende psychische Störungen und Reaktionen
durch die nachträgliche Integration der traumatischen Erfahrung
in einen neuen symbolischen Horizont auf. Die Temporalität der Freudschen
Nachträglichkeit zeigt sich im besonders von Lacan hervorgehobenen
Tempus des future antérieures, des "immer-schon-gewesen-seins".
Verspätung wird hier konstitutiv und verliert ihren Charakter eines
akzidentiellen Zusatzes; vielmehr schreibt sie sich in die Funktionsweise
von Sinnerzeugung von vornherein ein(28).
Was heißt dies für die Systemtheorie? Die Beschreibung von vergangenen
Operationen führt nicht nur dazu, daß ihre Bedeutung sich im aktuellen
Sinnhorizont verändert, sondern zur Entfaltung ihrer Operativität.
Die Systemtheorie geht davon aus, daß ein blindes Operieren die
Grenzen eines Systems erzeugt und damit auch bereits Komplexität
reduziert, die durch Selbstbeobachtungen und -beschreibungen weiter
reduziert werden kann. Gerade diese Präexistenz des Systems macht
es möglich, die Beziehung von operativer Autopoiesis und ihrer semantischer
Selbstbeschreibung letztlich mit einem Modell zu erklären, das von
einem präkonstituierten Signifikat ("dem funktional differenzierten
System") für die Semantik ausgeht.
Das psychoanalytische Modell der Nachträglichkeit dekonstruiert
dagegen die Annahme, daß nachträgliche Beschreibungen stets auch
zu spät sind, um systemkonstitutiv sein zu können und Differenzierungstypen
mitzubestimmen(29). Hier sind
Selbstbeschreibungen nicht nur ein komplexitätssteigernder Zusatz,
sondern entfalten retroaktive Effekte auf die von ihnen beobachtete
Ebene(30). Man kann dies am Beispiel
literarischer Kanonbildung illustrieren (Shepherdson
1996), die auf der Indifferenz gegenüber bestimmten Werken beruht.
Wenn in Selbstbeschreibungen der ,blinde Ausschluß in Frage
gestellt und ignorierte Werke als aus dem Kanon ausgeschlossene
Werke sichtbar werden, dann geht es nicht nur um eine veränderte
Selbstbeobachtung. Vielmehr produziert eine derartige Selbstbeschreibung
Bedeutungen, welche retroaktive Effekte auf die Vergangenheit produziert
(Shepherdson 1996). Die
vormalig als normal betrachtete Indifferenz wird plötzlich zum u.U.
traumatischen Exklusionsereignis. Dieses Ereignis entfaltet seine
Operativität erst durch seine Plazierung innerhalb einer geeigneten
Semantik (z.B. politically correctness Diskurse), die eine
derartige Exklusion als Exklusionspraktik konstituiert. So wird
nicht einfach eine neue Bedeutung geschaffen, sondern eine zunächst
nicht-integrierbare Irritation, da das vergangene, vormals neutralisierte
Ereignis nun zum Trauma wird:
(T)he logic of Freuds notion of the deferred action
does not consist in the subsequent gentrification of
a traumatic encounter by means of its transformation into a normal
component of our symbolic universe, but in almost the exact opposite
of it something which was at first perceived as a meaningless,
neutral event changes retroactively, after the advent of a new symbolic
network ... into a trauma that cannot be integrated (?i?ek,
1992: 221-222).
Unterschieden werden muß deshalb zwischen der Herstellung einer
traumatischen Irritation durch Verschiebungen des symbolischen Netzwerkes
und den Symbolisierungsversuchen dieser Irritation. Während in anderen
Ansätzen retrospektive Sinnerzeugung als zunehmende "clarification"
(Weick 1995, 11) beschrieben
wird, weist ?i?eks Verständnis von Nachträglichkeit darauf hin,
daß die retroaktive Sinngebung ein Trauma erzeugen kann und so gleichzeitig
auch die Grenzen eines Signifikationssystems bezeichnet.
Eine systemtheoretische Analyse der kanonbildenden Exklusionspraktiken
auf sozialstruktureller Ebene würde dagegen zunächst eine allfällige
Diskrepanz zwischen der Exklusionsrealität und möglicherweise ihrer
Verkennung auf der semantischen Ebene feststellen. Falls sich eine
Exklusion sozialstrukturell als bedeutsam erweist, so könnte systemtheoretisch
argumentiert werden, ist anzunehmen, daß sich früher oder später
eine ,adäquate Semantik herausbildet. Die Semantik paßt sich
hier einem sozialstrukturellen Druck an: die Exklusionsereignisse
werden so zahlreich, daß sich an älteren universalistischen Semantiken
nicht mehr festhalten läßt, da diese dann völlig ihren ,Realitätsbezug
verlieren würden. Aus einer derartigen Perspektive bleibt die diese
Exklusionsverhältnisse verarbeitende Semantik den bereits bestehenden
Exklusionspraktiken äußerlich.
Während die begriffsgeschichtlich verfahrende Systemtheorie einzelne
Unterscheidungen zum Indikator des sozialgeschichtlichen Wandels
macht, interessiert sich die symptomatische Lektüre dafür, wie durch
Veränderungen im symbolischen Netzwerk Irritation und Bedeutung
erzeugt werden (?i?ek 1989, 55f.).
Das hier vorgeschlagene Modell der Nachträglichkeit schließt es
deshalb aus, Evolution nur auf einer Ebene zu lokalisieren, die
den Selbstbeschreibungen vorgeordnet ist. Vielmehr werden Selbstbeschreibungen
durch ihre retroaktiven Effekte zum evolutionär bedeutsamen Faktor,
indem sie die autopoietische Operativität des Systems miterzeugen.
Im Falle der literarischen Kanonbildung zeigt sich die Verschränkung
von sozialstruktureller und semantischer Ebene auch dadurch, daß
die Skandalisierung von Exklusionpraktiken wiederum in zu ,kanonisierenden
literarischen Werken geschehen mag.
Veränderungen in der Semantik werden aus der Sicht des psychoanalytisch
informierten Modells nicht als Anpassung an ein schon existierendes
sozial-strukturelles ,Trauma verstanden, sondern rufen durch
ihre Reartikulation traumatische Ereignisse hervor. Weit davon entfernt,
an die zum Trauma führenden Exklusionspraktiken angepaßt oder mit
diesen kompatibel zu sein, steht jetzt die Nichtintegrierbarkeit
dessen im Vordergrund, was zuvor in seiner Neutralität nicht beobachtet
wurde. Die Inkompatibilität ist hier weder einer bloß zeitlich gedachten
Verspätung noch einer unkontrollierten Verspieltheit der Semantik
geschuldet, sondern wird zum Funktionsmechanismus des Zusammenhangs
von ,blindem operativem Fluß und Selbstbeobachtung. Die Veränderung
der Semantik führt zur Effektivität der Operation, indem diese den
Status eines neutralen Ereignisses verliert, da es nicht mehr in
den neuen Sinnzusammenhang integriert werden kann und dennoch als
Irritation insistiert(31).
Es sind dies die Momente, an denen die kulturelle Dimension von
Semantik in den Vordergrund rückt. Denn wenn wir, wie Dirk Baecker
(1997, 48) für die Systemtheorie
vorgeschlagen hat, Kultur als Umgang mit dem Schrecken, also dem
zunächst semantisch Nicht-Integrierbaren verstehen, dann setzt dies
im hier vorgeschlagenen Konzept auch die Herstellung des Traumatischen
voraus. Dieses trifft nicht von außen auf eine konsolidierte Semantik,
sondern entsteht erst durch die semantische Überdeterminierung der
Beobachtung von Operationen. Die Semantik reagiert nicht auf eine
ihr vorgelagerte sozialstrukturelle Krise, sondern erzeugt durch
ihre Veränderungen eine Operation, die nun als Nicht-Integrierbare
zu insistieren beginnt.
Methodisch bedeutet das, ohne dies hier ausführen zu können, daß
die traditionellen Verfahren der Begriffsgeschichte ergänzt werden
müssen. Die dekontextualisierende Isolation einzelner besonders
bedeutungsmächtiger Begriffe oder Unterscheidungen vernachlässigt
die netzwerkartige Gestalt von Semantiken, ihre Rhetorik und narrative
Struktur (Somers 1994). Aber
gerade eine derartige Analyse wäre notwendig, um bestimmen zu können,
bei welchen Begriffen es sich um dominante Symbole handelt (vgl.
Ansell 1997, 373) und wie semantische Netzwerke Bedeutungshorizonte
erzeugen. Es kann nicht nur darum gehen, einzelne Unterscheidungen
auf ihre Repräsentation eines sozialstrukturellen Signifikats hin
zu dechiffrieren, sondern vielmehr wird jetzt eine Analyse des differentiellen
Netzwerks von Semantiken notwendig. Denn erst die Positionierung
innerhalb eines derartigen Netzwerkes entscheidet über die Form
der nachträglichen Sinneffekte. Ähnlich wie Derrida (1972,
320) für die Traumdeutung konstatiert hat, versucht eine derartige
Analyse zu vermeiden, "daß man sich allzu sehr mit Inhalten
abgibt, nicht genügend aber mit Beziehungen, Situationen, dem Funktionszusammenhang
und den Differenzen". Gerade eine differenztheoretisch angelegte
Theorie sollte deshalb statt einer vorschnellen Einengung des Blickwinkels
auf zu isolierende semantische Unterscheidungen deren syntaktische
und rhetorische Einbettung hervorheben(32).
V. Nachträge
Bevor rückblickend einige Konsequenzen des psychoanalytischen Begriffs
der Nachträglichkeit skizziert werden, möchte ich meine Argumente
hinsichtlich der begrifflichen Positionierung von Semantik und Sozialstruktur
kurz zusammenfassen.
In der Diskussion der Rolle des Strukturbegriffs hat sich gezeigt,
daß auch Semantiken als Strukturen zu verstehen sind. Luhmann schränkt
allerdings ein, daß es sich dabei nicht um die eigentlichen
Strukturen des Systems handelt, da sie nicht konstitutiv für dessen
Differenzierungsform sind. Wenn es aber richtig ist, daß sich Sozialstrukturen
durch ihren Handlungsbezug auszeichnen, dann nimmt die Semantik
durch die Bereitstellung von wiederholbaren Handlungsfiguren und
-rhetoriken eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der zu strukturierenden
Elemente ein. Denn nur durch den Bezug auf die symbolischen Strukturen
von Selbstbeschreibungen, kann der Handlungsbezug der für die Sozialstruktur
konstitutiven Elemente hergestellt werden. Gerade weil die Systemtheorie
mit handlungstheoretischen Annahmen bricht, muß sie erklären können,
wie Kommunikationen als Handlungen ausgeflaggt werden. Dazu sind
symbolische Formen und Schemata, die in der Selbstbeschreibung des
Systems hergestellt werden, unentbehrlich.
In einem zweiten Schritt wurden systemtheoretische Versuche, die
Semantik/Sozialstruktur-Unterscheidung auf die Unterscheidung von
Beobachtung und Operation zu beziehen, diskutiert. Dies eröffnete
zwei unterschiedliche Begründungen für das Verhältnis von Sozialstruktur
und Semantik. Zum einen geht in der dominierenden systemtheoretischen
Leseweise ein operativ konstituiertes System seiner Beobachtung
durch die Semantik voraus. In diesem Falle ratifiziert die Semantik
nachträglich, was bereits geschehen ist; sie mag sogar teilweise
den Kontakt zur operativen Realität verlieren, indem sie an veralteten
Unterscheidungen festhält oder unkontrolliert neue Unterscheidungen
hervorbringt. Dennoch steht aber fest, daß ,in letzter Instanz
derartige Abweichungen nicht toleriert werden und die Semantik sich
dem Druck ihr vorgelagerter Differenzierungsformen beugt. Da aber
beobachtungstheoretisch auch Semantiken strukturierte Operationen
sind, muß Luhmann deren operative Rolle begrenzen, um am ursprünglichen
Semantik/Sozialstruktur-Modell festhalten zu können. Zwei entsprechende
Strategien wurden aufgezeigt: Zum einen wird die quantitative Bedeutungslosigkeit
von semantischen Operationen hervorgehoben, zum anderen werden semantische
Operationen von den basalen Systemereignissen getrennt.
Nimmt man aber Luhmanns (1987,
317) Selbstbeschreibung (!) seiner eigenen Theorie ernst, dann
zielt sein Projekt gerade darauf, die Abhängigkeit der Autopoiesis
von Selbstbeobachtungen aufzuzeigen. Das hier vorgeschlagene Modell
einer psychoanalytisch informierten Nachträglichkeit möchte daran
anknüpfen und geht von einer konstitutiven Verwicklung von semantischer
Beobachtung und sozialstrukturellem Operieren aus. Dies schließt
nicht aus, daß ,lineare Nachträglichkeit das Verhältnis von
Gesellschaftsstruktur und Semantik in einzelnen Systemen charakterisiert.
Es bedeutet jedoch, daß es spezifischer Erklärungsangebote bedarf,
die deutlich machen, wie ein System seine konstitutive Nachträglichkeit,
die mit dem Modus kommunikativen Operierens vorgegeben ist, so transformiert,
daß ein sozialstruktureller Realitätseffekt entsteht. Während Luhmanns
Modell der ,linearen Nachträglichkeit davon ausgeht, daß die
Semantik früher oder später zur Gesellschaftsstruktur passen wird,
werden nun gerade jene nicht zuletzt auch semantischen Mittel interessant,
die eine derartige ,Adäquanz produzieren. Damit bewegt sich
das hier vorgeschlagene Konzept von Semantik besser: von
Selbstbeobachtungsnetzwerken weg von der herkömmlichen Idee,
daß semantische Konzepte zu einer ihnen vorgelagerten Sozialstruktur
passen müssen (vgl. Somers 1995,
132).
Ich möchte zum Abschluß drei mögliche Konsequenzen für die Unterscheidung
von Sozialstruktur und Semantik skizzieren:
1. Systemdifferenzierung und semantische Beschreibung lassen
sich nicht mehr problemlos trennen. Das hier skizzierte Modell
der Nachträglichkeit argumentiert, daß semantische Strukturen konstitutiv
sind für Sozialstrukturen. Der anfangs zitierte Fall der Staatssemantik
ist paradigmatisch für dieses Modell: Das eigentlich den operativen
Anschluß regulierende Kommunikationsmedium ist zu vage, um alleine
die operative Schließung des Systems zu realisieren. Die Semantik
funktioniert hier nicht nur als Produzentin von bewahrenswertem
Sinn und Reflexionswissen, sondern als konstituierende Kraft in
der Reproduktion der autopoietischen Operationen. Damit ist nicht
nur die eigene Operativität gemeint, sondern auch die des beobachteten
Ereignisses, das erst auf diese Weise operativ wird. Erschüttert
wird so die Voraus-Setzung einer operativen Basis des Systems, die
auch ohne das Zutun der semantischen Selbstbeobachtungen funktionieren
könnte.
Ähnliches läßt sich übrigens auch beim Kunstsystem beobachten.
Während die anfänglich zitierte Aussage Luhmanns an der nicht-konstitutiven
Rolle von Selbstbeschreibungen für das Kunstsystem festhält, räumt
Luhmann (1995b, 485) für die
(post)moderne Kunst ein, daß hier die Selbstbeschreibung in der
Form von Kunstwerken zur basalen Operation des Systems wird. Diese
,Sonderfälle, die aber durch zahlreiche andere Fälle ergänzt
werden könnten, weisen darauf hin, daß die normalerweise angenommene
Abhängigkeit der Semantik von der Sozialstruktur gerade solche Fälle
nicht zu erklären vermag. Wenn die Selbstbeschreibung selbst zur
Operation in Form eines avantgardistischen Kunstwerkes wird, dann
droht auch das Modell von preadaptive advances zu versagen,
da solche Kunstwerke bereits durchführen, was sie eigentlich nur
vorbereiten sollten. Radikalisiert man die Luhmannsche Annahme,
daß Selbstbeschreibungen ebenfalls operativ wirksam sind und daß
diese dazu beitragen, die von ihnen beschriebenen Operationen zu
konstituieren, dann ist die Semantik an der Form der Systemdifferenzierung
selbst beteiligt. Die Semantik entsteht deshalb nicht erst nach
einer epochalen Bifurkation des Systems, sondern ist aktiv an ihrer
Herstellung beteiligt(33).
2. Die nachträgliche Konstitution von Operationen wird durch
Verschiebungen in der Semantik erzeugt, wodurch gleichzeitig durch
deren Widerständigkeit ,reale Systemprobleme geschaffen werden.
Verzichtet man auf einen Begriff der Sozialstruktur als exklusiven
Bereich, in dem die gesellschafltlich entscheidenden Probleme kreiert
werden, dann muß diese auch nicht mehr unterschwellig zur eigentlichen
Realität des Systems werden. Vielmehr gerät in den Blick, was Luhmann
(1995c, 168; 1997a, 127) als
Gemeinsamkeit von Konstruktivismus und Dekonstruktion beschreibt:
"Die Operationen eines Systems finden Widerstand an anderen
Operationen desselben Systems"(34).
Die Diskussion der nachträglichen Konstitution von traumatischen
Ereignissen hatte gerade diesen Aspekt hervorgehoben: Ein ehemals
widerstandsloses, neutrales Element wird nachträglich nur deshalb
zur ,Realität, weil es durch Veränderungen des semantischen
Netzwerks an Widerständigkeit gewinnt.
Luhmanns Argument, daß Selbstbeschreibungen relativ unbedeutend
für die Autopoiesis eines Systems sind, weil sie in viel geringerer
Zahl auftreten als die "basalen Operationen" des Systems,
wird hier mit dem ebenfalls Luhmannsche Argument kontrastiert, das
die Bestimmung von Realität als Eigenwiderstand von Operationen
bestimmt. Widerständigkeit kann hier nicht quantitativ ermittelt
werden, sondern ergibt sich aus dem Verhältnis von Operationen und
ihrer Rekursivität. Eine derartige Widerständigkeit befindet sich
logisch vor der Unterscheidung von Sozialstruktur und Semantik.
Entsprechend hängt es von der Artikulation des Verhältnisses von
Sozialstruktur und Semantik ab, ob die aus dieser Widerständigkeit
entstehenden Systemprobleme der Sozialstruktur zugeschrieben werden.
3. Das Verhältnis zwischen Sozialstruktur und Semantik ist evolutionär
variabel. Diese Ausführungen problematisieren zwar die Sozialstruktur/Semantik-Unterscheidung,
plädieren aber keineswegs für ihre Streichung. Eine derartige Strategie
würde es sich zu einfach machen und über die intrikaten Verwicklungen
von Sozialstruktur und Semantik hinwegsehen. Was ich zu zeigen versucht
habe, ist vielmehr, daß die Konfiguration der beiden Unterscheidungsseiten
in der Figur ,linearer Nachträglichkeit grundbegrifflich prekär
abgestützt ist. Denn es läßt sich alternativ zu Luhmanns
Versuch einer beobachtungstheoretischen Begründung der Sozialstruktur/Semantik-Unterscheidung
ebenfalls mit beobachtungstheoretischen Mitteln eine Nachträglichkeit
ausarbeiten, die das Beobachtete retroaktiv konstituiert.
Dies schließt nicht aus, daß Systeme sich selbst oder daß soziologische
Beobachter diese in Begrifflichkeiten ,linearer Nachträglichkeit
beschreiben. Die hier vorgeschlagene Position liest derartige Beschreibungen
als historisch zu bestimmende Versuche von sozialen Systemen, sich
zu asymmetrisieren und auf diese Weise einen Realitätseffekt zu
erzeugen. Bei der ,linearen Nachträglichkeit handelt es sich
um stets lokale Stabilisierungsversuche der mit dem Beobachtungsbegriff
gegebenen konstitutiven Nachträglichkeit(35).
Gerade die Asymmetrisierung zugunsten der Sozialstruktur und die
vorausgesetzte Kompatibilität werden nun zu erklärungsbedürftigen
Phänomenen. Eine derartige evolutionstheoretische Situierung eröffnet
den Zugang zu Fragestellungen, die ansonsten bereits vorentschieden
sind. Denn jetzt müßte zunächst geklärt werden, ob ein System mit
dieser Unterscheidung arbeitet und wie der Übergang von der Sozialstruktur
zur Semantik geregelt ist. Dabei ist anzunehmen, daß das Verhältnis
von Sozialstruktur und Semantik historisch variabel und systemspezifisch
unterschiedlich angelegt ist(36).
Während im Modell der ,linearen Nachträglichkeit Evidenz
als evolutionstheoretischer Begriff die Abhängigkeit der Semantik
von der Sozialstruktur bezeichnet, interessiert nun, wie Beobachtungsarrangements
Evidenzeffekte erzielen. Hier mag ein Bezug auf den rhetorischen
Begriff der evidentia weiterhelfen: Evidentia ist
nicht nur ein anderer Name für Beschreibung, sondern bezieht sich
auf die rhetorischen Strategien, mit denen ein Redner seine Zuhörer
in die Position des Augenzeugens versetzt(37).
Gegenwärtig bleibt im Begriff des Augenzeugen auch der Moment des
Schreckens, der die Widerständigkeit der Semantik ausmacht (Beaujour
1981, 28f.).
Die evolutionäre Verortung der Gesellschaftsstruktur/Semantik-Unterscheidung
umfaßt also gerade auch die Organisation des Verhältnisses der beiden
Unterscheidungsseiten. Ausgeschlossen werden so generalisierende
Aussagen über einen stets bestehenden Anpassungsdruck der Semantik
an die Sozialstruktur. Stattdessen wird die Unterscheidung selbst
zu einem kontingenten Ergebnis der Evolution von Beobachtungsverhältnissen
und ist damit ein Effekt der permanenten Umschrift des Systems.

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