Soziale Systeme 2 (1996), H.1,
S. 153-177
Zur Diskussion gestellt:
Niklas Luhmann, "Die Kunst der Gesellschaft"(1)
Wie der Unterschied zwischen Ornament und Figur in die Welt kam
Michael Hutter
I.
Die Kunst der Gesellschaft ist der vierte in einer Reihe von Texten,
in denen Luhmann die verschiedenen Funktionssysteme unserer Gesellschaft
einzeln thematisiert. In jedem der Bücher dieser Folge erzählt Luhmann
seine Theorie neu. Es ist erkennbar die gleiche Theorie, nämlich
die, die in Soziale Systeme (1984) ihre allgemeine sozialtheoretische
Grundlegung erfahren hat, deren gesellschaftstheoretische Ausformulierung
und Anwendung aber einem eklatanten Veränderungsprozeß unterworfen
ist: In der Wirtschaft der Gesellschaft (1988) folgt die Gliederung
noch grob den Topoi der traditionellen Wirtschaftstheorie; in der
Wissenschaft der Gesellschaft (1990) ist eine eigenständige systemtheoretische
Ordnung erkennbar, mit weitausholenden Beiträgen zu Einzelthemen;
im Recht der Gesellschaft (1993) taucht die Abfolge Funktion - Codierung
und Programmierung - Evolution - Selbstbeschreibung erstmals als
Gliederungsstruktur auf, wird aber unterbrochen und ergänzt durch
zahlreiche rechtsspezifische Fragestellungen; in der Kunst der Gesellschaft
(1995) sind nicht nur die Formulierungen zu einzelnen Themen prägnanter
geworden. Die gesamte Gliederung ist klarer konturiert und leichter
nachvollziehbar.
Die ersten drei Kapitel entwickeln das Instrumentarium der Beobachtung,
das aus Kommunikations-, Beobachtungs- und Formtheorie besteht.
Auffallend ist, daß erstmals "Medium und Form" ein eigenes
Kapitel gewidmet ist. In den beiden mittleren Kapiteln werden Ausdifferenzierung
und Selbstorganisation des Kunstsystems theoretisch entfaltet und
anhand historischer Texte dokumentiert und interpretiert. Dem folgt
ein Versuch, die Evolution des Kunstsystems, insbesondere den evolutionären
Sprung des 15./16. Jahrhunderts, zu beschreiben und zu erklären.
Der Text schließt mit einer historischen Darstellung und einer Diskussion
der Selbstbeschreibungen von Kunst.
Der Aufbau folgt einem Schema, das in der (immer noch allein auf
Italienisch publizierten) Theorie der Gesellschaft entworfen wurde.
Demnach entspricht Kommunikationstheorie der sozialen Dimension
gesellschaftlicher Autopoiesis, Differenzierungstheorie entspricht
ihrer sachlichen und Evolutionstheorie ihrer zeitlichen Dimension.
Die drei Theoriekomplexe sind die "Einstiegstore für die Darstellung
der Gesamttheorie" (Luhmann
1989, 386). Der Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen
Beobachtungsperspektiven wird auch in der Theorie der Gesellschaft
durch eine notwendigerweise rekursive Form der Selbstbeschreibung
hergestellt.
Eine weitere Neuheit ist anzuzeigen: Luhmann setzt diesmal ein
richtiggehend didaktisches Mittel ein, indem er innerhalb der (selbstverständlich
titellosen) Einzelabschnitte den jeweils nächsten Argumentationsschritt
durch eine Frage kennzeichnet. Zusammen mit der Klarheit der Einzelformulierungen
und der Kohärenz der Gesamtstruktur führt soviel Leserfreundlichkeit
zumindest streckenweise zu einer ungewohnt mühelosen Lektüre.
II.
Eine Nacherzählung wird der Differenziertheit und der Vielfalt
von Luhmanns Text sicherlich nicht gerecht. Aber sie ist ihrerseits
nicht gezwungen, in die Metabeschreibung auszuweichen, was beim
vorgegebenen Abstraktionsgrad meist nichtssagend endet. Sie bewahrt
auch davor, die eigenen Schlußfolgerungen und Folgerungen zu präsentieren,
die der Leser, ohne den Referenztext zu kennen, nicht einschätzen
kann. Deshalb wird im folgenden doch auf dieses einfache Stilmittel
zurückgegriffen.
Kap. 1 entwickelt Grundbegriffe der Kommunikationstheorie. Psychische
Wahrnehmung wird in ungewöhnlicher Ausführlichkeit von Kommunikation
unterschieden und getrennt erläutert. Dann wird Kommunikation als
Reproduktion der Unterscheidung von Fremdreferenz (Information)
und Selbstreferenz (Mitteilung) eingeführt. Beobachten, so wird
gefolgert, bedeutet den Gebrauch (genauer: das Ereignis) einer Form,
und das wiederum bedeutet den Gebrauch einer Unterscheidung zur
Bezeichnung einer der beiden Seiten der Form. Im Fall der Kunst
ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß sowohl Herstellen als auch
Betrachten Möglichkeiten des Beobachtens mittels einer Form sind.
Die doppelt geschlossenen, nach außen erkennbaren und nach innen
beschränkten Formen, um die es sich im folgenden handelt, sind Kunstwerke.
Damit wird eine grundlegende Festlegung getroffen: Kunst kommuniziert
ausschließlich durch Kunstwerke (88). Alle übrige Kommunikation
gehört zur Umwelt des Kunstsystems.
Kap. 2 hebt die Diskussion auf die Ebene der Beobachtung von Beobachtungen,
und damit auf die Ebene des Netzwerks von Unterscheidungen, das
als System erkennbar wird. Von besonderer Bedeutung sind die Abschnitte
X und XI. Im ersten der beiden richtet sich die Beobachtung (des
Textes, also die dritter Ordnung (157)) auf die Selbstbeobachtung
der Welt. "Es geht immer ... darum, zu beobachten, wie die
Welt sich selber beobachtet, wie aus einem unmarked space ein marked
space entsteht, wie etwas unsichtbar wird, wenn etwas sichtbar wird"
(149). Kunst ist dann "die Nachahmung der Unsichtbarkeit der
Welt, der als Ganzes nicht darstellbaren Natur durch Verstärkung
ihrer Krümmungen ..." (150). Die durch die "Krümmungen"
geschaffenen "Schönheitslinien" (ein Begriff aus der Ästhetik
der Romantik) müssen sich gegen die Zumutung bewähren, auch anders
sein zu können, denn in der modernen Welt können "weder Konsens
noch Authentizität als gesichert oder auch nur als erreichbar unterstellt
werden" (152). Das bedeutet für Individuen, daß ihnen die Möglichkeit
authentischer Partizipation, etwa durch Konsens, verwehrt ist. Im
Abschnitt XI wird die historische Entwicklung dieser Selbstbeobachtungsform
vom Naturrecht bis zum Sozialkontrakt skizziert, um dann noch einmal
deutlich zu machen, daß alle diese Konstrukte nur Selbstbeobachtungsspezialitäten
einer bestimmten Epoche sind. Die moderne Kunst steht damit gleichberechtigt
neben der Sozialphilosophie als Modus der Herstellung von Beobachtungen
zweiter Ordnung. Sie "verändert die Sichtbarkeits-/Unsichtbarkeitsbedingungen
der Welt, indem sie Unsichtbarkeit konstant hält und Sichtbarkeit
variiert" (157).
Vom Begriff der Form, der angesichts des Themas ganz von selbst
ins Zentrum gerückt ist, wandert in Kap. 3 die Aufmerksamkeit zur
anderen Seite der Unterscheidung, zum Medium. Gibt es ein besonderes
Medium für das, was wir als Kunst erfahren (176)? Die Antwort auf
diese Frage zieht sich über die nächsten 100 Seiten hin. Entscheidend
und überraschend ist dabei die Behandlung von Raum und Zeit, den
fundamentalen "Medien der Errechnung von Objekten" (184).
Sie werden sichtbar durch die Unterscheidung von Ornament und Figur.
Das Ornament, so wird sich im Fortgang des Textes zeigen, ist der
selbstreferentielle, die Figur dagegen der fremdreferentielle Aspekt
eines jeden Kunstwerks: "Wenn man Kunstwerke als Kunstwerke
auf ihr Formenspiel hin beobachten will, muß man nach ihrem Ornament
fragen" (196). Dieses Formenspiel zwingt den Künstler und den
Betrachter (beides Varianten des Beobachters), "von Form zu
Form weiterzugehen, um schließlich die Form, mit der man begonnen
hatte, als die andere Seite einer anderen Form wiederzuerreichen"
(190). Das Medium der Kunst ist dann, jenseits der Wahrnehmungsmedien
der einzelnen Kunstgattungen, die "Gesamtheit der Möglichkeiten,
die Formgrenzen (Unterscheidungen) von innen nach außen zu kreuzen
und auf der anderen Seite Bezeichnungen zu finden, die passen, aber
durch eigene Formgrenzen ein weiteres Kreuzen anregen. (...) Im
Suchen verwandelt sich dann das Medium in Form" (191). Über
die Unterscheidung von Stilen, oder allgemeiner über die Unterscheidung
von Verändern und Bewahren, läßt sich die langfristige Entwicklung
von Form und Medium der Kunst beobachten. Um bei derartiger Abstraktion
noch einigermaßen konkrete Vorstellungen zu gewinnen, empfiehlt
es sich, auf den 1986 erschienenen
Aufsatz zum Medium der Kunst zurückzugreifen. Die damals entwickelte
Erkenntnis, daß das Medium einer Kunstgattung in ihrem Formenkanon
besteht, ist durch die jetzt vorgeschlagene Verallgemeinerung nicht
obsolet geworden.
Soweit das "Orientierungswissen" (214). Die nun folgenden
vier Kapitel sind enger auf die strukturellen Bedingungen und historischen
Ausprägungen europäischer Kunst bezogen. Kap. 4 diskutiert die Funktion
der Kunst - wobei "Funktion" freilich nur ein möglicher
"Vergleichsgesichtspunkt" ist. Diese Funktion liegt Luhmann
zufolge nicht allein in der Fähigkeit, Wahrnehmungen in die Gesellschaft
miteinzubeziehen, die anders als durch Kunst nicht kommunikabel
sind. Sie besteht darüber hinaus in der Fähigkeit, die Welt in eine
reale und in eine imaginäre Realität zu spalten (229). In den so
geschaffenen Realitäten wird dann die "Unvermeidlichkeit von
Ordnung schlechthin" (241) sichtbar. Aber das ist erst ein
Thema für das nächste Kapitel. Zuerst wird, in den mehr als 30 Seiten
füllenden Abschnitten VI und VII, die Geschichte der Kunstfunktion
rekapituliert: die Umstellung vom magischen auf den edukativen Gebrauch,
die kunstinternen Kriterien des Spätmittelalters, die Einbettung
der Kunst in Hof-, dann in Marktverhältnisse, und schließlich die
Fokussierung auf Selbstreflexion und Autonomie in der Romantik.
Gleichzeitig verfolgen wir die Entwicklung von einer symbolisch
gemeinten zu einer als Zeichen verstandenen Kunst, bis hin zu einer
Kunst, die sich auf das Ausprobieren von Formenkombinationen spezialisiert.
Nun, da das Formenspiel der Kunst funktional in der Gesellschaft
verortet ist, wendet sich die Diskussion in Kap. 5 der Ausdifferenzierung
ihrer Selbstorganisation zu. Die (binäre) Codierung zeigt an, ob
eine Beobachtung überhaupt zum System gehört oder nicht. Schönheit
galt lange Zeit als entscheidendes binäres Kriterium für das, was
zur Kunst gehört. Dieses traditionelle Verständnis wird durch die
Einführung der Unterscheidung von Code und Programm gesprengt. Heute
ist Schönheit nur ein denkbares Programm, im Rahmen dessen neue
Formerfindungen anschlußfähig sind: "Wenn man Codierung und
Programmierung unterscheiden will, muß man darauf verzichten, Schönheit
inhaltlich ... zu bestimmen" (314). Programme der Kunst basieren
auf dem Wiedererkennen von "erlesenen Formen" (318), wobei
"erlesen" hier wohl Selektion ebenso wie Bewertung konnotiert.
Um diesen Effekt zu erreichen, tauchen im Spätmittelalter, insbesondere
in der italienischen Renaissance, Rezepte und Regeln dafür auf,
wie neue Formen derartigen Programmen genügen (Neuheit ist eine
Voraussetzung für die Unterscheidung von Code und Programm und gleichzeitig
ein Unterscheidungsmerkmal für den Funktionsbereich). Im 18. Jahrhundert
wird zunehmend auf Geschmack abgestellt, bis dann im 19. Jahrhundert
die Selbstprogrammierung des Kunstwerks erprobt wird. Die Direktiven
für die Ausarbeitung und Beurteilung eines Kunstwerks müssen zunehmend
dem Kunstwerk selbst entnommen werden (334). Daraus folgt die (didaktische)
Frage, ob Kunstwerke dann völlig zusammenhangslos, jeweils selbstprogrammiert,
zu denken seien. Die Antwort lautet: Kunstwerke beeinflussen Kunstwerke,
und die Temporalisierung dieses Effekts läßt sich als Stil beschreiben,
durch dessen Kanon Abweichungen kontrolliert werden. Aber daraus
resultiert keine Metaprogrammierung.
"Wie ist ... die laufende Transformation von Unwahrscheinlichkeit
der Entstehung in Wahrscheinlichkeit der Erhaltung möglich?"
(345) - so lautet Luhmanns leading question am Beginn des Kapitels
zur Evolution. Vorausgesetzt wird das zirkuläre Verhältnis von Variation,
Selektion und (Re-)Stabilisierung, das in der Wissenschaft der Gesellschaft
entwickelt wurde. Der Umschlag zur Selbstprogrammierung und damit
zur Autonomisierung des Kunstsystems wird von Luhmann in die italienischen
Städte des 15. Jahrhunderts placiert. Die Unterscheidung zwischen
vergangenem und re-aktualisiertem Stil der "Antike" führte
Kunst als etwas bereits Vorhandenes ein und ermöglichte dadurch
Selbstreferenz. Dazu kamen wirtschaftliche und politische Umweltbedingungen,
die die Stabilisierung des sich auf Selbstreferenz umstellenden
Formenspiels begünstigten. So kam es zu einem "take off",
der "weltgeschichtlich einmal und nur einmal passiert ist"
(381). Die Entwicklung des Systems bis zur zeitgenössischen Polykontexturalität
wird verfolgt, aber die Darstellung geht in ihrer Skizzenhaftigkeit
wenig über das in den vorherigen Kapiteln Gesagte hinaus. Der spezifische
Vorgang der Selektion von Stilarten und der Stabilisierung des Gesamtkunstsystems
bleibt im dunkeln, und im dunkeln bleibt auch, wie die simultane
Autonomisierung von Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft und
Kunst zwischen 1400 und 1800 zu erklären ist, zumal die strukturellen
Kopplungen der genannten Funktionssysteme kaum Erwähnung finden.(2)
Das abschließende Kap. 7 handelt von der Selbstbeschreibung der
Kunst. Eine erste Schwierigkeit liegt in der Unterscheidung zwischen
der internen Selbstbeschreibung im Kunstwerk und der Zuhilfenahme
externer Beschreibungen, wie sie für die Kunstkritik typisch sind.
"Aber die Reflexion, um die es unter dem Titel "Selbstbeschreibung"
geht, ... bezieht sich ... auf die ... innergesellschaftliche Umwelt
des autopoietischen Systems der Kunst" (396). Noch einmal wird
die Geschichte von der imitatio bis zum disegno erzählt, von der
Ablösung vom Rationalismus der Wissenschaft bis zur Thematisierung
der Paradoxie der Unsichtbarkeit in der Romantik. Doch diesmal ist
die Argumentation stärker angereichert mit zeitgenössischen Quellen,
wobei, bei Luhmann kaum überraschend, Quellen aus dem 17. und 18.
Jahrhundert dominieren. Diesmal liegt der Akzent auch stärker auf
dem Programm der externen Beschreibung, also der Kunstphilosophie
von Baumgarten bis Hegel, oder modernen Konzepten wie der "Rückführung
der Negation des Systems ins System" (479), oder der "Reflexion
der Einheit von unterschiedlichen Unterscheidungen" (483).
Ohne thematisiert zu werden, gerät dabei unvermeidlicherweise auch
Luhmanns Text selbst ins Visier der Darstellung, als ein wissenschaftlich
codiertes Programm von Unterscheidungen, das eine Selbstbeschreibung
der Kunst möglich macht, und das in Konkurrenz steht zu anderen
Kunsttheorien. Dabei fällt auf, daß die systemtheoretische Rekonstruktion
deutliche Überlappungen mit anderen Kunsttheorien hat, etwa mit
George Kublers Theorie der künstlerischen Formenreihen (vgl. Kubler
1962), oder mit der von Hans Belting entwickelten These, wonach
die Bilder ihre eigene Theorie enthalten (Belting/Kruse
1994). Die Beobachtung, daß die Regeln der Bearbeitung im Kunstwerk
selbst liegen, wird auch von Künstlern sehr ähnlich erfahren und
artikuliert.
Innerhalb der so gewählten Unterscheidungen wird dann folgende
Konklusion gezogen: "Das Kunstsystem vollzieht Gesellschaft
an sich selbst als exemplarischem Fall. Es zeigt, wie es ist. Es
zeigt, auf was die Gesellschaft sich eingelassen hatte, als sie
Funktionssysteme ausdifferenzierte und sie damit einer autonomen
Selbstregulierung überließ. Es zeigt an sich selbst, daß die Zukunft
durch die Vergangenheit nicht mehr garantiert ist, sondern unvorhersehbar
geworden ist. (...) Wer dies wahrnehmen kann, sieht in der modernen
Kunst das Paradigma der modernen Gesellschaft" (499).
III.
In der Nacherzählung bleiben die Grenzen des nacherzählten Werkes
unsichtbar. Deshalb seien noch drei Beobachtungen nachgeschoben.
Es fällt auf, daß Luhmann sich in aller Regel auf Objekte der bildenden
Kunst beschränkt. Darüber hinaus wird an zahlreichen Stellen, offenbar
einer Vorliebe des Autors folgend, die besondere Situation der Literatur
diskutiert. Musik findet dagegen nur äußerst kursorische und beiläufige
Beachtung. Das ist umso erstaunlicher, als gerade Musikkunstwerke
Ereignisse nicht-sprachlicher Kommunikation sind und damit der verwendeten
Theoriekonstruktion besonders gut entsprechen.
Des weiteren fällt auf, daß die Genauigkeit der Darstellung oft
vom Inhalt des legendären Zettelkastens bestimmt zu sein scheint.
So rückt etwa die Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts in eine
zentrale Position, was im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gesamtevolution
der Kunst nicht hinreichend plausibel gemacht wird.
Schließlich fällt ein Drittes auf: Es gibt eine Reihe älterer Beiträge,
in denen sich Luhmann bereits mit Kunst und Kunstwerken beschäftigt
hatte. Anders als in der Wirtschaft der Gesellschaft, bei der die
vorhandenen Aufsätze kompiliert wurden, sind hier die früheren Versuche
eingearbeitet in eine konsistente, darüber hinausgehende Gesamtdarstellung.
Unverständlich bleibt mir, wieso der Aufsatz "Weltkunst"
(Luhmann 1990), der zentrale
Gedanken der nun vorgetragenen Theorie enthält, an keiner Stelle
Erwähnung findet.
Insgesamt liefert Die Kunst der Gesellschaft nicht nur die jüngste,
sondern auch die leistungsfähigste Programmversion von Luhmanns
allgemeiner Systemtheorie der Gesellschaft. Dadurch gewinnt das
Buch an Bedeutung auch für Nicht-Kunstwissenschaftler. Es vermittelt
nicht nur Einsicht in die Operation und Funktion eines Sozialsystems,
das noch immer als marginal gegenüber Politik, Recht und Wirtschaft
angesehen wird. Es vermittelt auch Einsicht in den Entstehungsprozess
einer sich gegenwärtig formierenden Gesellschaftstheorie.
Prof. Dr. Michael Hutter, Universität Witten/Herdecke
Lehrstuhl für Theorie der Wirtschaft und ihrer
Umwelt
Alfred-Herrhausen-Str. 50, 58448 Witten

Die dunkle Seite der Kunst
Boris Groys
Der moderne Glaube an die Autonomie der Kunst hat zu einer zunehmenden
Professionalisierung des ästhetischen und kunsttheoretischen Diskurses
geführt. Die berühmt-berüchtigte Kommentarbedürftigkeit der modernen
Kunst verführt oft genug zu theoretischen Kommentaren, die einem
Außenstehenden noch unverständlicher erscheinen, als die durch
sie zu kommentierende Kunst selbst es je vermochte. Auch deswegen
hat es für die ästhetische Diskussion eine besondere Bedeutung,
wenn eine Philosophie oder eine Methodologie mit Universalanspruch
in das hermetische Feld des Ästhetischen interveniert. Von einer
solchen Intervention erhofft man das Zustandekommen einer theoretischen
Verbindung zur Außenwelt, die der modernen Kunst und Kunsttheorie
auf der Ebene der gesellschaftlichen Praxis versagt bleibt. Die
theoretischen Interventionen von Kant, Hegel oder Heidegger, um
nur wenige Namen zu nennen, bleiben auch heute für die Kunsttheorie
unverzichtbare Bezugspunkte.
Zu solchen gelungenen Interventionen zählt zweifellos auch das
Buch "Die Kunst der Gesellschaft" von Niklas Luhmann,
von dem zu erwarten ist, daß es ebenfalls zu einem festen Bezugspunkt
für alle späteren ästhetischen und kunsttheoretischen Diskussionen
wird. Der theoretische Ansatz Luhmanns verbindet nämlich den Respekt
vor der Autonomie der modernen Kunst mit dem Versuch, die Kunst
als Ganzes in einem noch größeren - als kommunikativ verstandenen
- Ganzen einzuordnen. In den Zeiten der klassischen Avantgarde
hätte man vielleicht gesagt, daß diese Vision des kommunikativen
Ganzen immer noch eine Vision bleibt und damit im Bereich der
Kunst liegt, die sich für alle möglichen Visionen zuständig fühlt.
So kann der Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst demnach
ebenfalls allein durch die Kunst selbst thematisiert werden, wobei
er allerdings dadurch sofort aufgehoben wird. Die heutige Kunst
ist dagegen bescheidener geworden. Obwohl es immer wieder behauptet
wird, daß alles zur Kunst gemacht werden kann, will man daraus
nicht mehr die bekannte hegelianische Schlußfolgerung ziehen,
die Nicht-Kunst sei in ihrem Wesen immer schon Kunst. Auf der
anderen Seite weiß man doch nicht so richtig, wie man über die
Nicht-Kunst denken kann und soll, denn wenn die Nicht-Kunst gedacht
wird, wird sie auch vorgestellt, d.h. automatisch zur Kunst gemacht.
So leidet die heutige Kunstszene, inklusive der Kunsttheorie,
unter einem Midaskomplex. Man will aus der Abgeschlossenheit des
Kunstsystems ausbrechen, die Grenzen des Kunstsystems überwinden,
transzendieren, durchbrechen, aber durch diese Bewegung der Grenzüberwindung
wird das Außen des Kunstsystems gleichsam in Kunst verwandelt,
und das Streben nach dem Außen erweist sich somit als vergeblich.
In dieser Situation stellt sich dem Selbstbewußtsein des Kunstsystems
weniger die alte Frage "Was ist Kunst?" als vielmehr
die Frage "Was ist Nicht-Kunst?" Die außerordentliche
Faszination und Suggestivkraft der Luhmannschen Kunsttheorie besteht
für einen Insider des Kunstsystems vor allem darin, daß sie diese
Frage nach dem Status der Nicht-Kunst explizit stellt und beantwortet.
Deswegen möchte ich mich im weiteren auf die Behandlung dieser
Frage konzentrieren.
Die Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst wird von Luhmann
in der Unterscheidung zwischen Form und Nicht-Form, oder zwischen
marked space und unmarked space verankert: "Ein Kunstwerk,
das sich im Unterschied zu allem anderen als Kunstwerk behauptet,
schließt zunächst also alles andere aus und teilt die Welt ein
in sich selbst und übrig bleibenden unmarked space" (61).
Eine weitere Reflexion ist nicht imstande, die beiden Seiten dieser
grundlegenden Unterscheidung zu beschreiben und damit die Unterscheidung
selbst aufzuheben, sondern kann sie bloß verschieben (52). Damit
wird das Außen des Kunstwerks mitkonstituiert, das unverfügbar
und unreduzierbar bleibt. Alle weiteren Operationen können nur
auf der Seite der Form, des marked space, des Kunstwerks vollzogen
werden: die erste Unterscheidung bestimmt die Logik aller weiteren
Unterscheidungen, die nicht mehr willkürlich sein können (74).
Das Kunstsystem wird von Luhmann als Summe solcher autonomen Formen,
Kunstwerke, marked spaces verstanden. Die Autonomie des Kunstsystems
wird in der Autonomie der einzelnen Form und in der autonomen
Entscheidung des Künstlers in bezug auf die erste Unterscheidung
zwischen Form und Nicht-Form begründet: die Nicht-Kunst, oder
das Außen des Kunstsystems, ist demnach der gemeinsame Rest, der
gemeinsame unmarked space, der infolge aller individuell getroffenen
Unterscheidungen übrig geblieben ist.
Dieses Modell des Kunstsystems ist sicherlich im Kunstverständnis
des high modernism verankert, das das Kunstwerk als eine autonome
Form begreift, die durch das Spiel zwischen dem inneren Gesetz
der Form und dem freien Willen des Künstlers entsteht. Zugleich
gesteht Luhmann einer solchen autonomen Form aber kein besonderes
Privileg zu. Mittels historischer Exkurse, die letztendlich alle
vom Duchampschen Modell des Ready-mades und seiner Interpretation
bei Danto inspiriert sind, zeigt Luhmann, daß jede Form eventuell
als Kunstwerk anerkannt werden kann. Die Phänomenologie Husserls
wird damit mit der Phänomenologie Hegels kombiniert. Die Geschichte
der Aufhebungen der Unterschiede zwischen Kunstwerk und jeder
anderen beliebigen Form führt zur Schließung, Ausdifferenzierung
oder Autonomisierung des Kunstsystems, das keine äußere Form außerhalb
sich selbst mehr hat. Das Verhältnis zwischen Kunst und Nicht-Kunst
entwickelt sich also auf der Ebene der Unterscheidung zwischen
künstlerischer und nicht-künstlerischer Form hegelianisch-dialektisch.
Dagegen verhält sich die Unterscheidung zwischen Form und Nicht-Form
husserlianisch. Jenseits des geschichtlich entstandenen Repertoires
der Formen erstreckt sich die unreduzierbare Wüste des Formlosen.
Nicht die ganze Erde kann man kolonisieren, privatisieren, formen.
Das Frontier bleibt. Das System Kunst ist zwar autonom in dem
Sinne, daß es kein Gesetz außerhalb dieses Systems gibt, dem die
Kunst unterworfen wäre. Aber jenseits aller hegelianischen Sicherheiten
lauert das Gesetzlose, Namenlose und Wilde, das als ewige Quelle
der Gefahr nicht gezähmt werden kann. Das Modell Luhmanns kann
damit als theoretische Klärung des obenerwähnten Midaskomplexes
verstanden werden, der das Verhältnis der Kunst zu ihrem Anderen
regelt: das Kunstsystem kann und muß in der Suche nach dem Neuen
weiter und weiter ins Formlose eindringen. Dadurch wird das Formlose
aber nicht besiegt, sondern bloß verschoben und wieder aus den
Augen verloren, d.h. in seiner verborgenen Gefährlichkeit unangetastet
belassen. Diese Vision ist beunruhigend und beruhigend zugleich.
Die Gefahr ist zwar nicht beseitigt. Aber sie ist nach Außen verdrängt,
so daß sich zumindest im Inneren der Form die reine, ungetrübte
Freude am Werk, die wir mit dem Kunstschaffen assoziieren, friedlich
entfalten kann.
Aber ein durch einschlägige Erfahrungen mißtrauisch gewordener
Zeitgenosse fragt sich trotzdem: ist das Kunstsystem in seinem
Inneren tatsächlich so friedlich, so frei, so autonom? Irgendwie
hat man doch dieses Kunstsystem als Ort der Intrigen, Machtkämpfe
und Abhängigkeiten aller Art kennengelernt. Woher kann das alles
bloß kommen?
Darauf kann man bei Luhmann allerdings auch einen Hinweis finden.
Luhmann betont nämlich immer wieder, daß ihn die Kommunikation
durch die Kunst und nicht die Kommunikation über die Kunst interessiert.
Damit hängt auch zusammen, daß bei Luhmann das Material, aus dem
ein Kunstwerk gemacht ist, explizit zum Opfer der methodologischen
epoché wird. So schreibt Luhmann: "Die Materialität der Texte
oder anderer Kunstwerke gehört immer zur Umwelt und kann nie Komponente
der Operationssequenzen des Systems werden" (161). Auch an
einigen anderen Stellen betont Luhmann, daß das Material der Kunst
samt aller Manipulationen mit diesem Material außerhalb des Kunstsystems
zu situieren ist. Und in der Tat: das Kunstsystem als System der
Formen muß sichtbar bleiben. Da das Material als das unsichtbare
Innere des Kunstwerks, als unsichtbarer materieller Träger der
Form von dieser Form verdeckt bleibt, gehört es nicht ins Kunstsystem.
Wird das Material dagegen in der Form selbst offenbart, wie es
beispielweise die klassische Avantgarde angestrebt hat, dann handelt
es sich nicht mehr um das Material, oder um den Träger, sondern
um die Form selbst.
Wie ungewöhnlich auch immer diese These Luhmanns für einen Künstler
klingen mag, der sich gezwungen sieht, sich auch dann mit dem
Material zu beschäftigen, wenn er als rein konzeptueller Künstler
gelten will, muß man dieser These sicherlich zustimmen: was nicht
gesehen oder gehört werden kann, bleibt draußen. Nur stellt sich
dabei aber folgende Frage: ist der materielle Form- oder Kunstträger
im gleichen Sinn ausgeschlossen und hat er den gleichen Status
wie Nicht-Form oder Nicht-Kunst? In Luhmanns Buch wird diese Frage
nicht explizit gestellt und beantwortet, aber alles, was man dort
lesen kann, deutet eine negative Antwort an.
Die Unterscheidung zwischen Form und Nicht-Form wird nämlich
als Unterscheidung im Medium beschrieben, welches als virtuelles
Reservoire aller möglichen Formen verstanden wird, wobei Zeit
und Raum auch als medial gelten, "was immer ihnen als hypokeimenon
,zu Grunde' liegen mag" (179). So wird der materielle Träger
der Formen, oder der Medienträger als hypokeimenon des Kunstwerks
anders - und viel radikaler - ausgeschlossen, als die Nicht-Form,
oder der unmarked space, der immer noch auf der Ebene des Medialen
liegt. Und in der Tat: der materielle Kunstträger bildet "das
Außen im Inneren" des Kunstwerks, das sich von dem "bloßen
Außen" des virtuellen Mediums radikal unterscheidet. Ein
Kunstwerk hat nicht eine, sondern zwei Außenseiten: erstens die
äußere Grenze der Form, die die "horizontale" Nicht-Form
draußen läßt und die Luhmann vor allem thematisiert, und zweitens
eine Außenseite "hinter der Form", die "in der
Tiefe liegt" und die Form trägt. Erst dieser Träger als hypokeimenon
des Kunstwerks macht es möglich, daß ein Kunstwerk seine eigene
Zeit und seinen eigenen Raum haben kann, von denen nur unter sehr
problematischen metaphysischen Voraussetzungen gesagt werden kann,
daß es sich dabei um "fiktive" Zeit und "fiktiven"
Raum handelt.
Aber sobald das Außen im Inneren der Form diagnostiziert wird,
wird das Kunstsystem insgesamt ungemütlich. Zunächst einmal wird
die erste, formbestimmende Unterscheidung vom Verlust der Autonomie
bedroht. Und in der Tat: die ursprüngliche Wahl des Bildrahmens,
die beispielweise im Falle der Malerei immerhin vieles von dem
bestimmt, was später innerhalb diesen Rahmens auf der Bildfläche
passiert, kann nicht auf eine ursprüngliche Formunterscheidung
zurückgeführt werden. Vielmehr stellt sich die Frage danach, wie
etwa eine entsprechende Leinwand produziert, aufgehängt, plaziert,
aufbewahrt, transportiert und restauriert wird. Alle diese rein
materiellen Bedingungen der Existenz eines Bildes bestimmen offensichtlich
im höchsten Grade seine Form. Zugleich können diese Bedingungen
nicht vollständig im Bild selbst reflektiert werden. Allen unermüdlichen
Versuchen zum Trotz, die materiellen und institutionellen Bedingungen
der Kunst in der Kunst selbst zu reflektieren, bleiben diese Bedingungen
strukturell verborgen. Der Grund dafür besteht darin, daß der
Bildträger nicht vollständig im Bild offenbart werden kann, obwohl
- oder gerade weil - seine äußere Form der Form des Bildes identisch
ist. Die ontologische Differenz, die Heidegger zurecht dem Optimismus
der Husserlschen Phänomenologie entgegengesetzt hat, widersetzt
sich als, sagen wir, ontomediale Differenz auch dem Optimismus
der modernistisch verstandenen Autonomie des Kunstsystem. Auch
in diesem Fall kann die Differenz zwischen Form und Formträger
nicht auf eine ihrerseits formale Unterscheidung zwischen Form
und Nicht-Form, oder zwischen Kunstsystem und seinem Außen reduziert
werden. Das Außen des Kunstsystems operiert in seinem Inneren.
Das Verborgensein des Kunstträgers hinter der Kunstform schafft
einen dunklen Raum innerhalb des Kunstsystems (im Unterschied
zum blinden Fleck außerhalb dieses Systems), in dem alle möglichen
dunklen Machenschaften, Machtkämpfe und Intrigen ausgetragen werden
können: die Materialität der Kunstwerke eröffnet die Möglichkeit,
mit der Kunst als mit Nicht-Kunst umzugehen. Diese Möglichkeit
ist komplementär zu der optimistischen Möglichkeit, mit Nicht-Kunst
als mit Kunst umzugehen.
Kunstwerke können verkauft, zerstört, gebraucht, mißbraucht,
in den Müll geworfen - aber auch aufbewahrt und ausgestellt werden,
wie alle anderen Dinge auch. Dieses Schicksal der Kunstwerke als
materieller Dinge ist ihrer Form keineswegs äußerlich. Das bezieht
sich in erster Linie auf die Problematik des Neuen, die für den
theoretischen Ansatz von Luhmann von eminenter Bedeutung ist.
Nach Luhmann soll das Kunstwerk in erster Linie überraschen, indem
es sich vor dem Hintergrund der Tradition abhebt. Die Suche nach
dem Neuen verleiht dem Kunstsystem seine Dynamik. Und diese Suche
ist für Luhmann - entgegen vielen anderen posthegelianischen Theorien
vom Ende der Kunst - immer möglich, weil der unmarked space der
Nicht-Form immer offen bleibt. Damit eine neue Form sich als neu
zeigen kann, müssen allerdings alte Formen aufbewahrt werden.
Stellen wir uns vor, daß der Träger einer Form sofort zerstört
wird, nachdem diese Form produziert wurde. In diesem Fall kann
die gleiche Form immer erneut produziert werden - und sie wird
immer gleich neu empfunden, so daß das ganze Kunstsystem zu einer
einzigen Form reduziert werden könnte, ohne seine übrigen Charakteristiken,
inklusive seiner autopoietischen Dynamik, verlieren zu müssen.
Das Archiv der Kunstformen, das das Neue erst möglich macht, hat
allerdings wiederum einen materiellen Träger, dessen rein dingliches
Schicksal die autopoietische Dynamik somit von außen lenkt: werden
bestimmte Kunstwerke infolge einer Überschwemmung oder eines Brandes
oder einer absichtlichen Zerstörung verloren gehen, bekommt diese
Dynamik notwendigerweise eine andere Ausrichtung.
Noch deutlicher macht sich die ontomediale Differenz aber durch
die Benutzung der Kunst im Kontext des modernen Designs bemerkbar.
Die oft thematisierte Spaltung der moderne Kunst in hohe Kunst
und Massenunterhaltung bleibt bei Luhmann auf eine sehr signifikante
Weise beinahe unerwähnt, so daß das Kunstsystem als völlig homogen
erscheint. Das Formverständnis, das diesem System zugeschrieben
wird, bezeugt allerdings, daß es sich um die hohe Kunst handelt,
die sich allerdings imstande sieht, auch die Kitschformen zu integrieren.
Diese "postmoderne" Fähigkeit zur Integration bedeutet
aber keinen Sieg des Kunstsystems über seine "entfremdende"
Verwendung. Es handelt sich heute längst nicht mehr um die Kulturindustrie
als Bewußtseinsmanipulation im Sinne Adornos. Vielmehr werden
Kunstverfahren heute direkt im Kontext der Warenproduktion und
der Massenmedien angewandt, d.h. in die materielle Produktion
selbst als Design integriert. Als solche unterliegen diese Kunstprodukte,
die zugleich keine Kunstwerke sind, offensichtlich nicht mehr
der Logik des Kunstsystems, denn sie werden nach anderen Kriterien
hergestellt, präsentiert und verwendet. Trotzdem bleibt die Verwandschaft
zwischen Designprodukten und Kunstwerken über systemische Grenzen
hinaus dank ihrer Materialität erhalten.
Alles Obengesagte kann sicherlich leicht als Versuch gedeutet
werden, das schon vertraut gewordene Verfahren der Dekonstruktion
auf die Unterscheidung zwischen Kunst und seinem Außen anzuwenden,
wie diese im Buch Luhmanns beschrieben ist, indem der materielle
Kunstträger die Rolle des "Supplements" übernimmt, das
dieser Unterscheidung entgeht. Zum Teil wäre diese Deutung sicherlich
auch richtig. Und trotzdem wäre es in diesem Fall ungerecht, bei
der Dekonstruktion zu bleiben, denn die Anwendung der Dekonstruktion
wurde vorhin durch die Unterscheidung zwischen Unterscheidung
und Differenz ermöglicht, der zwei unterschiedliche Arten des
Außen entsprechen: das "horizontale" mediale Außen und
das materielle "Außen im Innern".
Dabei ist leicht festzustellen, daß diese Unterscheidung zwischen
Unterscheidung und Differenz, d.h. zwischen bewußten Grenzen und
unbewußten Zwängen, im Zentrum des heutigen künstlerischen Interesses
steht, so daß diese Unterscheidung ebenfalls als für das Kunstwerk
konstitutive im Sinne Luhmanns gedeutet werden könnte. Damit wird
ersichtlich, daß keine eindeutige Wahl zwischen systemtheoretischen
und dekontruktivistischen Diskursen begründet werden kann oder
soll. Vielmehr soll vielleicht noch einmal, Luhmann folgend, betont
werden, daß die ersten und entscheidenden Unterscheidungen in
bezug auf das Kunstsystem durch die Kunst selbst getroffen werden.
Das müßte aber auch bedeuten, daß die Grenzen des Kunstsystems
inmitten jedes einzelnen Kunstwerks gezogen werden - und nicht
außerhalb des Kunstwerks. Das Kunstwerk ist ein centaurusähnliches
Wesen, das nur zur Hälfte als Form dem Kunstsystem angehört -
und zur Hälfte ins Formlose und Gefährliche hinausragt.
Prof. Dr. Boris Groys, Hochschule für Gestaltung
Durmersheimer Str. 55, D-76185 Karlsruhe

Nur Kunst ist Kunst
Niels Werber
Einst gab es Polyhistoren, heute gibt es Systemtheoretiker. Freilich
sind sie modern - und wissen mit Faust, daß sie nichts wissen
können, doch das Herz verbrennt ihnen nicht darüber. Warum auch,
denn es ist, wie der Faust-Kenner Victor Eremitas wohl wußte,
erst "das Nichts, das alles zur Erscheinung kommen läßt".
Nur wer mit dem Nichts anfange, werde der Möglichkeit nach alles
schaffen können, bringe allerdings immer nur etwas Bestimmtes
hervor, je nach der Unterscheidung, die den Anfang macht - eine
"Geschäftsarbeit" etwa (uninspiriert) oder ein "Dichtwerk"
(inspiriert) (Kierkegaard
1982, 275). Man könnte mit anderen, mit Luhmanns Worten sagen,
daß "Objekt und Erzeugungsprozeß dasselbe ... [sind], weil
beides sich aus der Ausführung der Weisung ,draw a distinction'
ergibt, und zwar simultan ergibt" (56). Wer sagt, die Dichter
seien von Genien beflügelt oder nicht, "konstruiert"
damit eine andere Kunst als jemand, der sie beispielsweise in
antike und moderne einteilt. Gemeinsam ist beiden Distinktionen
nur, daß sie nicht allein ihr Objekt benennen, von dem die Rede
sein soll (Genies oder antike Poeten), sondern es zuallererst
erzeugen. In der Antike gab es noch keine antiqui; das Label erhält
erst von der Differenz zu den moderni Sinn. Gleiches gilt von
der Systemtheorie. Mit einem Set von Unterscheidungen erschafft
sie aus einem unmarked state die Gesellschaft, die sie von der
Umwelt unterscheidet und dann beschreibt. Was sie immer beobachten
und beschreiben kann, ist alles das, was sie "simultan"
generiert, so daß die Systemtheorie und ihre Gesellschaft gewissermaßen
ein- und dasselbe sind. Daher kann der Systemtheoretiker über
alles schreiben, während der Polyhistor nur alles wissen konnte.
Dazu bringt es heute niemand mehr, denn es gibt trotz des Mäusefraßes
an den Quellen allzuviel gespeichertes Wissen auf der Welt. Wenn
der Systemtheoretiker über alles schreiben kann, dann also nicht,
weil er alles wüßte, sondern weil er alles, worüber er schreibt,
erst selber erschaffen hat: die Wirtschaft, die Politik, das Recht,
die Wissenschaft, die Religion und auch die Kunst der Gesellschaft.
Diese "Kreativität" der Systemtheorie hat schon Künstler
dazu verleitet, in ihr "ein ultimatives Kunstwerk" zu
sehen (so Goetz/Terkessidis/Werber
1992, 71).
Eines steht daher so ziemlich (a priori?) fest: was immer Kunst
sonst (für andere Beobachter) sein mag, wenn es ein Sozialsystem
ist, dann nur innerhalb bestimmter Spielregeln, denen die von
der Systemtheorie generierte wie beschriebene Gesellschaft folgt.
Wie jedes andere Teilsystem besteht es aus Kommunikationen, die
codiert und programmiert werden; es beobachtet und beschreibt
andere Systeme und seine Umwelt wie sich selbst, verdichtet Medien
zu Formen, evoluiert in einer Nische und erfüllt eine Funktion
in der modernen Gesellschaft. Deshalb lassen sich Bücher schreiben,
die ähnliche Titel haben ("Das Recht der Gesellschaft")
und ähnliche Kapitelüberschriften aufweisen ("Selbstbeschreibung",
"Evolution", "Codierung und Programmierung",
"Funktion"...). Was nun aber Luhmanns neustes Opus magnum
bietet, ist nicht redundante Scholastik, sondern eine bisweilen
bis in die Details der Kunstwerke reichende, faszinierende Untersuchung
dessen, was die Kunst innerhalb dieses Rahmens anders macht als
alle anderen. Die Fragen an ein Sozialsystem sind bekannt, die
Antworten, die im Falle des Kunstsystems zu geben sind, nicht.
Es wäre banal, sich mit der Feststellung zu begnügen, auch die
Kunst sei Kommunikation; spannend ist, wie die Kunst - im Unterschied
zur Wirtschaft oder Wissenschaft - ihre besonderen Kommunikationen
als Kunst kenntlich macht. Innerhalb Luhmanns Projekt, das "Universalismus
und Spezifikation" (488), theoretische Vergleichbarkeit und
sachliche Verschiedenheit (7f.) kombiniert, möchte ich meine Diskussion
auf die Seite des Spezifischen konzentrieren. Luhmanns Vorhaben,
Bausteine einer Gesellschaftstheorie auszuarbeiten (7), tritt
also in den Hintergrund. Vordringlich ist die Frage, ob es Luhmann
wie geplant gelingt, seine theoretischen "Vorgaben ... am
kommunikativen Gebrauch von Kunstwerken nach[zuweisen]" (9).
Aisthesis
In einem seiner "Kritischen Fragmente" (1797) bemerkt
Friedrich Schlegel: "In der in Deutschland erfundenen und
in Deutschland geltenden Bedeutung ist ästhetisch ein Wort, welches,
wie bekannt, eine gleich vollendete Unkenntnis der bezeichneten
Sache und der bezeichnenden Sprache verrät. Warum wird es noch
beibehalten?" In jüngster Zeit will man der traditionellen
Bedeutung von "Aisthesis" wieder zu ihrem Recht verhelfen
(s. nur Barck/Gente/Paris
et al. 1991). Auch Luhmann legt seine Grundüberlegungen zur
Kunst aisthetisch an: "Das Kunstwerk selbst engagiert den
Beobachter mit Wahrnehmungsleistungen" (36). Doch sollen
Einseitigkeiten vermieden werden. Hat sich die Ästhetik bisher
entweder auf Wahrnehmung nicht nur der Kunst kapriziert oder auf
philosophisch angeleitete Kommunikation über Kunst, soll es nun
erstmals um beides gehen: "Mit der Unterscheidung Wahrnehmung/Kommunikation
betreten wir ... Neuland" (29).
"Das Bewußtsein kann nicht kommunizieren, die Kommunikation
kann nicht wahrnehmen" (82). Als Wahrgenommenes fasziniert
das Kunstwerk das Bewußtsein, also ein psychisches, kein soziales
System. Begnügte man sich damit, wäre Kunst ein absolut idiosynkratisches
Vergnügen der Rezipienten; zum sozialen Phänomen wird sie erst,
sofern sie auch Kommunikation ist. Tatsächlich provoziert Kunst
geradezu Kommunikation, und zwar weil sie wahrgenommen wird, denn
"wenn andere einen als wahrnehmend beobachten, kann man das
Wahrnehmen nicht gut bestreiten. Auf diese Weise wird unnegierbare
Sozialität erreicht" (36). Man wird also darauf aufbauen
können, um über die aisthetische Faszination des Bewußtseins und
ihren Grund, das Werk, wahrnehmungsadäquat ins Gespräch zu kommen.
Dies ist jedoch unmöglich, denn beide "Systemarten bleiben
füreinander operativ unzugänglich" (82). Was man mit Kriterien
wie "schön", "häßlich", "interessant",
"langweilig" bezeichnet oder mit ambivalenten Ausrufen
wie "Potztausend!" (Schlegel) belegt, fällt mit diesen
Formulierungen nicht zusammen. Ein Wort ist keine Wahrnehmung.
Selbst Sprachkunst wendet sich anders an die Wahrnehmung als Sprache
schlechthin, denn sie begnügt sich nicht mit dem "Verstehen
des Gesagten" (45). Kunst, so hat es Dirk Baecker formuliert,
ist "auf die kommunikative Unzugänglichkeit der Wahrnehmung
[spezialisierte] Kommunikation" (Baecker
1993, 3). Sie findet ihre Marktnische in dieser "Nahtstelle
psychischer und sozialer Systeme" (83), die sie in besonderer
Weise benutzt, ohne die operationale Differenz zu verschleifen.
Dies erfordert eine sehr voraussetzungvolle strukturelle Kopplung
von Bewußtsein und Sozialsystem, da die Kunst offenbar genau solche
Formen kommuniziert, die wahrgenommen werden, und der Kunstbetrachter
so wahrnimmt, daß anschlußfähig kommunziert werden kann. Es besteht
ein erheblicher Koordinationsbedarf, ehe die Teilnehmer an der
Kunstkommunikation mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Überzeugung
teilen, daß die Kommunikation etwas Nicht-Zufälliges mit ihrer
Wahrnehmung zu tun hat. Dies schließt Geschwätz - Kommunikation
ohne geschulte Wahrnehmung - und Verstummen - Wahrnehmung von
Beliebigem, ohne Fokussierung auf die eigens "für Zwecke
der Kommunikation" erzeugten "Formunterschiede"
(83) - aus.
An dieser plausiblen Konzeption leuchtet allerdings nicht ohne
weiteres ein, warum das Zusammenspiel von Kommunikation und Wahrnehmung
eigens im System der Kunst für Produzenten und Rezipienten koordiniert
werden soll, wenn man sie doch allenthalben antrifft. So wird
etwa Sexualität wahrgenommen und als Liebe formuliert, Hunger
verspürt und der Hamburger bezahlt, physische Stärke registriert
und gehorcht. In jedem Sozialsystem spielt Wahrnehmung eine Rolle,
sie "rahmt", so Luhmann selbst, "alle Kommunikation"
(28; Hervorh. N.W.). Und für alle Fälle gilt, daß Wahrnehmung
als Wahrnehmung inkommunikabel ist, weshalb etwa auch Liebende
vor dem Problem der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und
Kommunikation stehen: Wie sage ich überzeugend meiner Liebsten,
was ich so intensiv erlebe? Die vorläufige Antwort auf unsere
Frage ist, daß Kommunikation und Wahrnehmung sich wechselseitig
voraussetzen, aber allein das Kunstsystem sich auf die Beobachtung
dieser Unterscheidung spezialisiert. Analog könnte man sagen,
daß das organische Funktionieren des Körpers stets vorausgesetzt
werden muß, wenn eine Person kommuniziert, aber nur die Medizin
sich auf die Beobachtung seiner Funktionsweise konzentriert. Hinter
dieser Vermutung steht Luhmanns Überzeugung, daß in dieser Spezifität
die Funktion des Systems bestehe.
Code und Funktion
Was die Kunst der Gesellschaft allein und nur allein verrichtet,
kennzeichnet ihre Funktion. Das Kunststück des Kunstwerks, Wahrnehmung
und Kommunikation zu integrieren, zielt auf anderes ab als die
Adressierung verliebter Phrasen an eine schöne Frau. Dies setzt
zunächst voraus, daß der Beobachter ein Kunstwerk von einer schönen
Frau unterscheiden kann, was etwa Kierkegaards Verführer junger
Mädchen äußerst schwerfallen würde, denn Cordelia, so wie Johannes
sie wahrnimmt, ist seine Schöpfung und der Genuß an ihr ästhetisch.
Sein Beobachtungsstil macht aus Liebe Kunst; und zwar durch die
Kategorien, die seine Beobachtungen leiten. Johannes untersucht,
ob sein Verhältnis zu einer Frau "schön", "interessant"
oder "pikant" ist oder voller "Langeweile".
"Ich will dich dichten!", beschreibt er sein Projekt
(Kierkegaard 1982,
177, 180). Offenbar kommt es bei Unterscheidung von Kunstwerken
von allem Übrigen weniger auf den Gegenstand an, als auf die Unterscheidungen,
die bei der Beobachtung weiteren Unterscheidungen zugrunde liegen:
auf den Code der Kunst. Wenn schöne Formunterscheidungen von häßlichen
unterschieden werden, dann handelt es sich um Kunst, wenn höchstpersönliche
Beziehungen von unpersönlichen differenziert werden, geht es um
Liebe.
Codes sind Errungenschaften sozialer Evolution, die dem wahrnehmenden
Bewußtsein nicht selbstverständlich zur Verfügung stehen. Wer
über diese "Ausrüstung des Beobachtens" (304) nicht
verfügt - Beispiele liefern Ethnologie und Geschichte - wird auch
mit den spektakulärsten Kunstwerken vor Augen alles mögliche wahrnehmen,
nur keine Kunst. Der Systemcode löst das "Problem des Erkennens
der Systemzugehörigkeit von Operationen" (305). Daß der Code
klärt, ob Kommunikationen zum System gehören oder nicht, hat manchen
(S.J. Schmidt, Peter Fuchs) zu dem Trugschluß verführt, der Code
der Kunst liege in der Unterscheidung "Kunst/Nicht-Kunst",
doch stellt Luhmann nochmals überzeugend klar, daß "Referenzunterscheidungen"
(System/Umwelt; Kunst/Nicht-Kunst) nicht mit "Codeunterscheidungen"
(z.B. schön/häßlich) zusammenfallen (306). Daß außerhalb der Kunst
keine Kunst zu finden ist, formuliert ohnehin nur die Tautologie
neu, daß nur Kunst Kunst ist. Diese pure Selbstreferenz wird vom
Code gerade unterbrochen, denn er gibt an, was Kunst ist, nämlich
Schönes und Häßliche. Was immer von einem Objekt sonst noch gesagt
werden könnte, wenn es nicht mit dem Schema schön/häßlich beobachtet
werden kann, zählt es nicht zum System der Kunst, sondern folglich
zur Umwelt der Kunst. So würde der Marktwert eines Bildes zum
System der Wirtschaft gehören - trotz des Versprechens der Galeristin,
sie würde uns einen "schönen" Preis machen. Warum dann
in einer ganz spezifischen Lage Porträts häßlicher Menschen als
schön gelten und Bilder schöner Landschaften als häßlich, entscheidet
ein historisches Programm des Code. Diese Differenz von stabilem
Code und flexiblem Programm kannte die ästhetische Theorie bislang
kaum - und neigte daher dazu, aufgrund inhaltlicher und deshalb
vergänglicher Programme Wesensbestimmungen der Kunst zu wagen,
was zu Theoriebildungen geführt hat, die von ihrem zugrunde gelegten
Programm die Kurzfristigkeit ihrer Geltungsdauer geerbt haben
(vgl. etwa Adornos Ausschluß des Jazz aus der Kunst oder sein
Verbot der Collage). Für eine Codetheorie der Kunst ist dagegen
auch die nach Maßgabe bestimmter Programme häßliche, mißlungene
oder langweilige Kunst stets Kunst - was auch sonst, denn andernfalls
gäbe es nur gelungene Kunst oder überhaupt keine.
Soviel überzeugt: wenn es bei einer Kommunikation darauf ankommt,
ob sie wahr oder falsch ist, geht es um Wissenschaft, nicht um
Kunst. Wenn es um schön oder häßlich geht, dann um Kunst, andernfalls
würde man von einer "schönen Wissenschaft" durch "geschmackvolle
Aussprüche (bonmots) abgefertigt" (Kant
1974, 239 [= B 177f., A 175f.]). Kant wußte darüber hinaus,
daß nicht alles, was schön oder häßlich ist, Kunst sein muß, sondern
nur das, was ohne Zweck gefällt. Seine deutliche Ablehnung externer
Maßstäbe und heteronomer Zwecke (Kant
1974, 259 [= B 206f., A 204]) liefert zwar noch keine Funktionsbestimmng
der Kunst, weist aber den richtigen Weg.
Kierkegaards Johannes nimmt interessante Frauen ästhetisch war,
doch sind sie keine Kunstwerke. Dies liegt nicht daran, daß sie
nicht etwa mit dem Code der Kunst beobachtet werden könnten, sondern
daran, daß ihre Funktion eine andere ist. Die spezifische Integration
von Wahrnehmung und Kommunikation durch Kunst zielt auf eine "Herstellung
von Beobachtbarkeit", die "keinen anderen Sinn [hat]
als den einer Kommunikation von Ordnung in einem Formenarrangement,
das nicht von selbst passiert" (131). Bei Kunst handelt es
sich um hergestellte Ordnungen, die also auch anders denkbar wären,
aber gleichwohl nicht beliebig sind. Verschiedenste Medien wie
Holz, Farben, Körper, Worte, Töne werden so geformt, daß die "Ordnungszwänge"
der "Form" überzeugen, obgleich sie nur "im Bereich
des nur Möglichen" operieren. Das Kunstwerk ist also, was
immer es sonst noch ist, stets eine auch anders mögliche Ordnung,
deren wirkliche Form gleichwohl gefällt. Der Beobachter der Kunst
erkennt ein Werk, obwohl es sich dabei um eine kontingente, oft
auch neue, "originelle" Formierung eines Mediums handelt.
Er kombiniert also "Überraschung und Wiedererkennen",
Möglichkeit und Wirklichkeit. Kunst präsentiert die "Einheit
dieser Unterscheidung" (228). Sie ist, um es paradox zu formulieren,
kontingente Notwendigkeit.
Aber wofür soll dies notwendig sein? Der anspruchsvolle Funktionsbegriff
der Systemtheorie schließt nicht nur ein, daß ein Sozialsystem
sich von anderen durch einen anderen Funktionsbezug unterscheidet,
sondern auch, daß diese Funktion an einem spezifischen Problem
der Gesellschaft kondensiert, welches das System zugleich löst
und perpetuiert. Der Problembezug von Systemen wie Recht, Politik
oder Wissenschaft liegt auf der Hand, wer würde ohne diese Funktionsbereiche
sonst gegen Mächtigere Recht bekommen, Entscheidungen anderer
gegen die eigene Überzeugung akzeptieren oder mit solch kontraintuitiven
Sachverhalten rechnen wie einer sich um die Sonne drehenden Erde?
Solche Unwahrscheinlichkeiten transformieren Funktionssysteme
in Wahrscheinlichkeiten. Und die Kunst? Welches Problem würde
dadurch gelöst, daß "die Differenz zwischen dem Realen und
dem bloß Möglichen" verschärft wird, "um dann mit eigenen
Werken zu belegen, daß auch im Bereich des nur Möglichen Ordnung
zu finden sei" (236)? Gewiß, kein anderes System macht dies
so wie die Kunst, nicht einmal Versicherungen, aber dies reicht
als Grund für die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems Kunst
nicht aus. Luhmanns Bemerkung zum Problembezug des Kunstsystems
fällt dann auch denkbar vage aus: "Wie alle in der Gesellschaft
anfallenden Funktionen ... geht auch die Funktion der Kunst letztlich
auf Probleme sinnhafter Kommunikation zurück" (224). Entsprechend
können Strukturanalogien zwischen Sinn und Kunst nicht überraschen:
Sinn ist immer aktueller Sinn vor einem Horizont anderer Möglichkeiten;
Sinn besteht aus der Einheit der "Differenz von Aktualität
und Potentialität" (225); Kunst baut auf der Differenz von
Realem (aktuell) und Möglichem (potentiell) auf. Aber das gilt
für alle "sinnvollen" Tätigkeiten, ob man nun aus einem
Potential von Waren eine erwirbt oder von mehreren Debütantinnen
eine erwählt. "Und in der Kunst?" (226) Eine Antwort
steht aus - oder sollte es befriedigen, daß Kunst Mögliches als
notwendig erscheinen lasse, wenn auch nur für einen Bereich "fiktionaler
Realität" (229)? Welches Problem würde damit gelöst?
Das Kunstwerk
Luhmann schaut aufs Werk und seine Beobachtung. Den Operationsprozeß,
der zu einem Kunstwerk führt, stellt er sich als eine Unterscheidungskette
vor. Der Künstler beginnt beliebig. Das "Anfangsmotiv"
der "Operationssequenz" ist "irrelevant":
"Jeder Zufall würde genügen" (55). Nicht beliebig ist
aber schon die zweite Operation. Wenn der erste Strich auf der
Leinwand plaziert oder das erste Wort geschrieben ist, sind die
Möglichkeiten für die Anschlußoperation schon stark limitiert
(gleiches gilt für die Rezeption). Anhand des Codes überprüft
der Beobachter, welche Operation nun besser passen würde als andere,
wo der nächste Strich hin muß, welche Farbe, welches Wort, welcher
Takt, welcher Schritt nun gewählt werden muß. Über der Beliebigkeit
des Anfangs verdichtet sich ein Ordnungsgefüge, das aus einer
Folge von codeorientierten Formentscheidungen besteht. Daß jede
"Formbildung" höchst unwahrscheinlich erscheint, besorgt
das "Medium der Kunst", das stets "andere Möglichkeiten
bereit hält" und so "alles, was festgelegt wird, als
kontingent sichtbar" macht (204). Diese operative Theorie
künstlerischer Produktion überzeugt. Von ihr aus versucht Luhmann
den Brückenschlag zu einer analog gebauten Funktionsbestimmung:
Kunst ist Ordnung im Bereich des nur Möglichen, geformte Kontingenz.
Ist dies aber exklusiv genug?
Den Satz, daß die Würfel gefallen sind, hat man nicht nur von
Künstlern gehört. Auch in anderen Funktionsbereichen bilden sich
Ordnungen aus einem kontingenten Anfang. Die Entscheidungen, die
die Erstoperation nahelegt, sind nur anders codiert als die der
Kunst. Cäsar wollte primär einen Feldzug gewinnen und keinen Roman
schreiben. Dennoch schneidet Luhmann seine gesamte Studie auf
seine Auffassung eines Kunstwerks als kompakter Operationssequenz
zu. Dies verengt den Programmbegriffs auf eine Anleitung zur Erstellung
eines Werkes. Programmierung ist "Selbstprogrammierung des
Kunstwerks". Programme steuern die Operationen des Kunstsystems,
indem sie angeben, wann was als schön oder häßlich zu gelten hat,
so daß Künstler und Rezipienten daran ihre Beobachtungen ausrichten
können. Symbolisten finden anderes schön als Realisten, Impressionisten
anders als Surrealisten. Diese Art der Unterscheidung von Programm
und Code wird nun ins "konkrete Kunstwerk" verlagert.
Luhmann glaubt, "daß jedes Kunstwerk sein eigenes Programm
ist und sich, wenn genau das gezeigt werden kann, als gelungen
und eben damit als neu erweist. Die Programmatik durchdringt ...
das Einzelwerk, und erlaubt dann kein zweites derselben Ausführung
mehr" (328f.). Gelungen ist ein Werk also dann, wenn seine
Programmatik eingelöst wird. Dies impliziert einen Rezipienten,
der das Werk von seinem Programm unterscheiden kann, um beide
dann zu vergleichen. "Nur wenn man erkennt, wie es die Regeln,
nach denen sich die eigene Formenwahl richtet, aus eben dieser
Formenwahl entnimmt, kann man ein modernes Kunstwerk adäquat beobachten"
(331). Das Kunstwerk ist einzigartig ("neu") und daher
nur mit sich selbst zu vergleichen. Luhmanns am Werkbegriff orientierte
Systemtheorie der Kunst mündet in eine Hermeneutik, die vor 200
Jahren auf das Problem der Individualität der Kunstwerke mit der
Forderung reagiert hatte, die Werke nur noch mit sich selbst zu
vergleichen. Friedrich Schlegel etwa sprach in seiner Rezension
des "Wilhelm Meister" vom "Genius" des Werkes,
der alle seine "Atome" zu einer überzeugenden "Einheit"
organisiert. Jede Formentscheidung im Detail müsse mit der "Organisation
des Werks" im Einklang stehen, um das höchste Lob zu rechtfertigen.
Ob diese Übereinstimmung zwischen Programm und Werk als Qualitätsmerkmal
reicht, möchte ich bezweifeln, denn vorstellbar sind sowohl schauderhafte
Programme, die programmgemäß zu schlechten Werken führen, als
auch anregend verunglückte Programme, die nicht ihr Planziel erreichen,
deren Ergebnis aber gleichwohl gefällt. Und wie wäre mißlungene
Kunst, deren "Formenwahl" nicht als "Zusammenspiel"
bezaubert (328), von Kitsch oder Kunsthandwerk zu unterscheiden,
die Luhmann außerhalb der Kunst ansiedelt (300)? Handelte es sich
bei Formierungen, deren Ordnungsleistungen zwar auffallen, aber
als beliebig erscheinen, um häßliche Kunst, mißlungene Kunst oder
um keine Kunst?
Eine drohende Isolation der Einzelwerke registriert Luhmann selbst
und führt dagegen den Begriff des Stils ins Feld. Irgendwie muß
es wohl doch eine Art "Programmierung der Programmierung"
geben, die Zusammenhänge zwischen den Kunstwerken herzustellen
erlaubt (336). Nähme man nämlich die These ernst, jedes Werk programmiere
sich selbst, müßte dies nicht heißen: "Zufallsentstehung
oder mindestens: Neubeginn in jedem Einzelfall?" (336) Mit
der Anforderung, mit jedem Einzelwerk gleichsam das gesamte Kunstsystem
ab ovo neu entstehen zu lassen, wäre wohl jede noch so emergenzbereite
Evolution überfordert. Wahrscheinlicher ist, daß die Vergangenheit
der Kunst die Zukunft restringiert, vor allem, wenn jedes neue
Kunstwerk überraschen, also anders sein will. Stil erlaubt es,
auf Originalität getrimmte Werke dennoch zu vergleichen, indem
man sie einer historischen Periode mit gemeinsamen Merkmalen zuschlägt.
Innerhalb dieses Vergleichsrahmens gemeinsamer "loser Kopplung"
gibt es dann besonders überzeugende Formierungen des Mediums,
meistens jene Werke, die durch Innovation einen alten Stil abgelöst
und einen neuen aufgelegt haben. Wer jenseits aller Gemeinsamkeiten
"stillos" dahinproduziert und meint, den Code der Kunst
mit einem egomanischen Programm füttern zu dürfen, der produziert
"Singularia", die niemand als Kunst erkennen wird (338).
Ohne "Metaprogrammierung" (338) gibt es also Kunst als
soziales Phänomen nicht, was die Frage aufdrängt, warum die "adäquate
Beobachtung" von Werken sich nur an deren "Selbstprogrammierung"
ausrichten darf? Der Begriff der Selbstprogrammierung scheint
mir daher eher Probleme zu bereiten als zu lösen. Man wetze Ockhams
rasor-blade.
Fassen wir zusammen: Luhmanns Funktionsangabe und seine Vermutungen
über die Programmierung des Kunstcodes können sich zwar auf sein
innovatives Verständnis des Kunstwerks als Operationssequenz stützen
und seine Annahmen über eine Integration von Wahrnehmung und Kommunikation
bestätigen, doch gelingt es ihm nicht, diese Angaben mit einem
nur von der Kunst zu lösenden Problembezug solide zu motivieren.
Trifft diese Kritik am Funktionskonzept zu, dann hat sie weitreichende
Folgen für die Genese des Kunstsystems, da "Funktionen als
evolutionärer ,Attractor' für Systembildungen dienen" (216),
also auch hier eine zentrale Rolle spielen. Ohne einen überzeugenden
Funktionsbezug fällt es zudem schwer, anders als traditionell
Kunst und nur Kunst als Kunst zu identifizieren. Wenn das letztentscheidende
Distinktionskriterium zwischen Kunst und Nicht-Kunst der Funktionsbezug
(auch des Codes) ist, gerät man mit Luhmanns Formel in Schwierigkeiten.
Vieles, was er nicht zur Kunst gezählt wissen will, Kitsch, Design,
low literature, Hollywood Massenware, erfüllen dennoch ohne Zweifel
alle Beitrittsbedingungen. Auch das kitschigste Alpenpanorama
und die ödeste Vorabendserie sind auf Kontingenz aufgebaute, sich
im Verlauf selbstrestringierende und am Code stimmig/nicht-stimmig
orientierte Operationssequenzen - aber keine Kunst? Luhmann bleibt
hier nur die Möglichkeit, gleichsam einen Negativtest durchzuführen,
um zu zeigen, daß diese Kommunikationen eher anderen Funktionssystemen
zuzuschlagen sind: der Wirtschaft oder den Massenmedien. Doch
auch die Erkenntnis, daß mit einem Werk Geld verdient werden soll
oder daß es über einen Kabelkanal verbreitet wird, liefert keinen
sicheren Aufschluß darüber, ob es nicht dennoch Kunst wäre. Es
liegt nicht an der Systemtheorie, wenn Luhmann als Traditionalist
anspruchslose, triviale oder reichlich kommerzielle Werke zur
Nicht-Kunst erklärt.
Unterhaltung
Als Alternative bietet sich an, das grandiose theoretische framework
und die schlagenden Einsichten in die Kunstgeschichte und die
Semantik ihrer Beoachtung beizubehalten, um allein das Funktionskonzept
auszuwechseln, um von da aus Code, Programm und Selbstbeobachtung
neu zu arrangieren.
In seiner kleinen Abhandlung "Wechselwirtschaft" (1843)
macht Sören Kierkegaard (1982,
329-349) einen inspirierenden Vorschlag zum Problembezug der Kunst.
Dazu teilt er zunächst die verfügbare Zeit eines Menschen seiner
Gesellschaft anhand des Duals "Müßiggang - Arbeit" ein.
Hatte man einst bei "glücklichem Müßiggang" an Götter
oder Adelige zu denken, so sind im 19. Jahrhundert "der Haufe"
wie "der Adel" gleichermaßen vom Folgeproblem wachsender
Freizeit bedroht: der "Langeweile". Eine "ästhetische"
Antwort auf die so "verderbliche Langeweile" wäre es,
sich "zu unterhalten". Das die Psyche wie die Gesellschaft
bedrohende "Böse" der "Langeweile" werde "nur
dadurch aufgehoben, daß man sich unterhält". Als Mittel zur
Zerstreuung empfiehlt Kierkegaard die "Künste". Im Medium
der Kunst besteht die Chance, "eine unerschöpfliche Abwechlung
von Kombinationen zuwege [zu] bringen", wobei gerade die
Restriktionen der "Willkür" (etwa durch das gewählte
Medium, die Gattung, den Gegenstand etc.) die Formwahl schwieriger
und daher interessanter macht. Desto anspruchsvoller die Aufgabe,
"um so unterhaltsamer werden die Kombinationen". Dabei
läßt sich aus einem "Zufälligen" alles machen, indem
man Operationen anschließt, die dann passen, wenn sie nicht gleichfalls
zufällig sind, sondern sich dem "Prinzip der Beschränkung"
(Code) unterwerfen. "Genie" ist daher für Kierkegaard
das Talent, aus einem "Zufall reichen Stoff zur Unterhaltung"
zu ziehen (Kierkegaard
1982, 336-349).
Kierkegaard formuliert seine Aperçus bereits in einer funktionsdifferenzierten
Gesellschaft, in der die vormalige Stratifikation der Kommunikation
ihre beherrschende Rolle eingebüßt hat. Für die Kunst bedeutet
dies, daß - gefördert von den Verbesserungen der Drucktechnik
- ein anonymes Großpublikum angesprochen wird, statt einer Auswahl
adeliger Mäzene; daß daher auch die interne Gattungshierarchie
der Kunst und die regelpoetischen Vorgaben für ihre Inhalte ihren
alten Sinn verlieren. Das "Rangschema" der Künste, das
die "gesellschaftliche Hierarchie zu imitieren" scheint,
hat ausgedient (375). Das Exklusivrecht des Adels auf Müßiggang
und daher auch auf Unterhaltung wird ubiquitär, sobald neben der
"Brotarbeit" immer mehr freie Zeit übrig bleibt, die
"langweilig" zu werden droht und nur mit "Unterhaltung"
zerstreut zu werden vermag. Muße ist aller Laster Anfang, schärft
Kierkegaard seinen Lesern ein, und gegen dieses Laster hilft unterhaltsame
Zerstreuung: Kunst. Auch Friedrich Schlegel hat in seiner "Idylle
über den Müßiggang" (1799) vor der Langeweile gewarnt, Arthur
Schopenhauer sieht 1851 in der "freien Muße", die dem
Menschen neben "Mühe und Arbeit" bleibt, eine anspruchsvolle
Aufgabenstellung, die Zeit jenseits von "Langeweile und Dumpfheit"
zuzubringen (zit. nach Asholt/Fähnders
1991, 191f. und 193f). Nimmt man die massenhaft belegbare
Bestandsaufnahme ernst, daß die zunehmende freie Zeit für "alle
Stände" ein Problem darstellt, auf das sich die Gesellschaft
einzustellen hat, dann bekommt Kierkegaards koketter Vorschlag
Gewicht, die Funktion der Kunst in der Unterhaltung müßiger Zeit
zu sehen.
Die schon von Schlegel ins Spiel gebrachte, von Kierkegaard weiterverfolgte
Anregung, Kunstwerke nicht länger mit der Unterscheidung "schön/häßlich",
sondern "interessant/langweilig" zu beobachten, erhält
vor dem Hintergrund der Unterhaltungsfunktion der Kunst neue Attraktivität.
Luhmann sieht "keine überzeugende Alternative zu schön/häßlich"
als Code der Kunst (317), obschon er seine Zweifel hat, was ihn
zu einer Abstrahierung des Codes führt: gemeint ist nur noch,
daß die Operationssequenzen der Kunst "positive und negative
Konnotationen mitführen" (316). Dies gilt von jedem Code
(302), doch sind die Kandidaten für andere Systeme konkreter und
überzeugender: wahr oder falsch, Regierung oder Opposition, Recht
oder Unrecht, um nur einige zu nennen. Zudem stehen die Codewerte
"schön" und "häßlich", wollte man denn mit
ihnen arbeiten, in keinem einleuchtenden Zusammenhang zu Luhmanns
Funktionsformel, während "langweilig" und "interessant"
eine inhärente Beziehung zur Unterhaltung einnehmen: Dieselbe
freie Zeit, die von der Kunst unterhalten wird, vergeht entweder
"kurzweilig", so das Pendant zu "interessant"
seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, oder sie vergeht "langweilig",
die Zeit erscheint zerdehnt. Daher dient "interessant"
als Motivationswert mit hoher "Akzeptanzwahrscheinlichkeit",
"langweilig" aber als "Reflexionswert" zur
Kontrolle der Chancen, "mit welchen Programmen das Sinnversprechen
des positiven Werts eingelöst werden kann" (vgl. 302).
Die Programme der Kunst und Literatur schwenken um 1800 en gros
auf die von Schlegel vorgegebene Richtung ein, während die als
Abteilung der Philosophie entstehende Disziplin der Ästhetik von
den "schönen Künsten" den alteuropäischen Code "schön/häßlich"
erbt. Luhmanns Kapitel über die "Selbstbeschreibung"
der Kunst ist daher in weiten Teilen eher eines über Fremdbeschreibung.
Denn die Ästhetik, hier wiederhole ich bekannte Einwände (etwa
von Plumpe 1993, 295f.;
Werber 1990, 1196f.), liefert
keine Selbstbeschreibung im Sinne einer "Operationsweise
von Systemen, die die systemeigene Identität des Systems erzeugen"
(398). Sie reflektiert vielmehr die noch junge Autonomisierung
der Kunst und versucht, in ihr eine unverbrauchte Ressource für
philosophische Projekte zu erschließen, mögen diese dann "ästhetische
Erziehung des Menschen" oder "ästhetischer Vor-Schein"
heißen. Die Reflexion der Kunst innerhalb des Kunstsystems verwendet
zwar weiterhin auch die Begriffe "schön" und "häßlich",
ersetzt aber ihre philosophische Bedeutung durch eigene. Schön
ist nicht mehr die Harmonie von Ganzem und Teilen oder die vollkommene
Einheit von Medium und Idee, das Schöne ist nun bizarr, also interessant
(vgl. Plumpe/Werber
1993, 32). Diese Umcodierung des ästhetischen Codes durch
die Kunst erklärt auch die massive Hinwendung zum "Häßlichen",
bei Luhmann der "Negativwert" des Kunstcodes. Das Häßliche
wird keinesfalls vermieden, sondern als "interessant"
angesehen, bisweilen gar interessanter als das Schöne. "Elle
est bien laide. Elle est délicieuse pourtant!", schreibt
Baudelaire im "Spleen de Paris", "elle est vraiment
laide, [...] elle est exquise." Kaum ein kunstnah formuliertes
Programm von der Romantik über Realismus, Ästhetizismus und Avantgarde
bis zur heutigen "Postmoderne", das neben allen möglichen
und unmöglichen Zielen der Kunst nicht auch betont, sie müsse
vor allem unterhalten und dürfe nicht langweilen (vgl. Plumpe
1995).
Das Problem der freien Zeit wird heute nicht nur von den altbekannten
Kunstgattungen, sondern auch von den Massenmedien betreut. Kinofilme,
Sitcoms und Pulp fiction unterhalten die Massen. Für Luhmann ist
dies keine Kunst, warum auch immer. Ich möchte ein extensives
Verständnis von Kunst vorschlagen, daß sich nicht auf den Kanon
der Hoch-Kunst beschränkt, sondern Krimis, B-Movies und Pop einbezieht.
Schließlich haben alle diese Gattungen das Eine gemeinsam, gleich
an welches Publikum über welches Medium sie sich richten; sie
unterhalten freie Zeit mit codierten Operationssequenzen, deren
Beobachtung fesselt oder langweilt. In diesem Zuschnitt ist die
Kunst keinesfalls ein "gesellschaftsstrukturell eher harmloses"
Phänomen, auf das anders als im Falle von Recht oder Macht auch
,mal verzichtet werden könnte (326). Denn man stelle sich einmal
vor, alle TV-Kanäle strichen ihre Unterhaltungsprogramme, alle
Kinos schlössen ihre Tore, kein Sender übertrüge Musik oder Hörspiele,
alle CDs, Kassetten und Platten wären defekt, keine Oper oder
Theater spielten, alle Bücher zerfielen zu Staub - was geschähe
dann mit unserer "Freizeitgesellschaft"? Es würde wohl
nicht lange dauern, bis eine gelangweilte Hand das erste Ornament
auf ein Blatt Papier gezaubert hätte, so daß die Evolution der
Kunst von Neuem beginnen könnte. Würden nicht aus zeitvernichtendem
Small-talk schnell literaturähnliche Formen entstehen? Wenn ja,
dann geht es nicht ohne Kunst. Und dies ist der Sinn des Funktionsbegriffs
in der Systemtheorie.
Dr. Niels Werber, Germanistisches Institut, Fakultät für Philologie
Ruhr-Universität Bochum, Postfach 102 148, D-44780
Bochum

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