Zusammenfassungen
Essays zu Niklas Luhmanns 'Die Religion der Gesellschaft'
Detlef
Pollack:
Probleme der funktionalen Religionstheorie Niklas Luhmanns
Funktionale Analysen untersuchen Gegenstände im Hinblick auf Probleme,
die mit ihnen gelöst sind. Aus dieser Herangehensweise resultieren
eine Vielzahl von methodologischen Problemen, von denen vier hier
im Hinblick darauf, wie Luhmann mit ihnen umgeht, behandelt werden:
das Problem der inkongruenten Perspektive, das der Wahl des jeweiligen
Bezugsgesichtspunktes, der Unbestimmtheit und Weite funktionaler
Analysen sowie das Problem der häufig mit funktionalen Herangehensweisen
verbundenen Unterstellung eines invarianten Bedarfs an funktionalen
Problemlösungen. Besonderer Wert wird auf die Herausarbeitung des
Widerspruchs zwischen der Behauptung der Nichtsubstituierbarkeit
von Religion und dem Nachweis funktionaler Äquivalente für sie sowie
auf das Spannungsverhältnis zwischen der Möglichkeit religiöser
Funktionserfüllung und innerreligiösem Funktionsbewußtsein gelegt.
Rudolf
Schlögl:
Historiker, Max Weber und Niklas Luhmann.
Zum schwierigen, (aber möglicherweise produktiven) Verhältnis von
Geschichtswissenschaft und Systemtheorie I. Historiker werden die
"Religion der Gesellschaft" in erster Linie aus der Perspektive
der Weberschen Religionssoziologie wahrnehmen. II. Für den Frühneuzeithistoriker
ist in der religionssoziologischen Argumentation Luhmanns die Feststellung
zentral, daß die Ausbildung eines stabilen symbolisch generalisierten
Kommunikationsmediums für das Sozialsystem Religion mißlingt und
die Geschichte von Religion in der Frühen Neuzeit deswegen durch
die Suche nach Substituten gekennzeichnet ist. III. Während Max
Weber Religion in einen ursächlichen Zusammenhang zur Herausbildung
des okzidentalen Rationalismus setzt und insbesondere im asketischen
Protestantismus eine der Haupttriebkräfte identifiziert, verweist
Luhmann auf den universalen Charakter der Heilsunsicherheit, die
für die Evolution von Religion relevant wird, sobald sie sich auf
einen (einzigen) Beobachtergott eingelassen hat. Für die Geschichtsforschung
zur Frühen Neuzeit ergeben sich mehrere Anschlußstellen zu dieser
systemtheoretischen Religionssoziologie. Sie liegen vor allem in
einem kommunikationstheoretisch fundierten Begriff der Religion,
in der Typologie sozialer Systembildung und im Begriff der Säkularisierung,
den Luhmann expliziert.
Peter Beyer:
Religion as Communication in Niklas Luhmann's "Die Religion der
Gesellschaft"
Luhmanns Umschalten auf Kommunikation als dem sozialen Grundelement
seiner Theorie der Gesellschaft legt die Frage nahe, wie er Religion
als Kommunikation verstanden hat. Der folgende Beitrag geht dieser
Frage anahnd aller Luhmmannschen Veröffentlichungen über Religion,
insbesondere aber mit Blick auf seinen letzten posthum veröffentlichten
Band nach. Die Analyse zeigt, daß Luhmann zweierlei Arten religiöser
Kommunikation unterschieden hat. Zum einen gibt es die paradoxe
Art religiöser Kommunikation: Kommunikation, die auch keine Kommunikation
ist, vor allem Riten, Mythen, und Offenbarungsereignisse. Diesen
Typ betrachtet Luhmann als problematisch, da er nicht klar zwischen
Information und Mitteilung unterscheidet. Zum anderen gibt es Kommunikation
über diese paradoxe Art der religiösen Kommunikation, und zwar Interpretationen,
Kommentare, Spekulationen usw. Diese Art religiöser Kommunikation
ist "normal".
Christoph
Dinkel:
Glaube als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium
In der systemtheoretischen Forschung ist umstritten, ob der religiöse
Glaube als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium des Religionssystems
zu bewerten ist oder nicht. Der Beitrag zeigt, daß der Glaube für
die protestantische Religiosität die Funktion eines symbolisch generalisierten
Kommunikationsmediums wahrnimmt.
Bernd
Oberdorfer:
"Der liebe Gott sieht alles" - und wir schauen ihm dabei zu. Theologische
Randbemerkungen zu Luhmanns Bestimmung von Gott als "Kontingenzformel"
Der Beitrag analysiert Luhmanns These, dass ein monotheistischer
Gottesbegriff im Religionssystem die Funktion einer "Kontingenzformel"
erfüllen könne, indem er systemintern anschlussfähige ("offizielle")
von nicht anschlussfähigen (devianten) Kommunikationen zu unterscheiden
und zugleich die Kontingenz dieser Unterscheidung zu absorbieren
erlaube. Luhmanns Bestimmung des Gottesbegriffs als personaler externer
Beobachter der Gesellschaft entspricht freilich weniger der christlich-theologischen
Tradition insgesamt als dem Theismus des 17. und 18. Jahrhunderts,
dem seit Kant, Fichte und Schleiermacher die Plausibilität entzogen
ist. Die erneute Entfaltung eines auf den Gottmenschen Jesus Christus
zentrierten trinitarischen Gottesgedankens im 20. Jh. lässt sich
jedoch als Reaktion auf diesen Plausibilitätsverlust und als besonders
konsequente Etablierung einer Kontingenzformel deuten.
Günter
Thomas:
Die Unterscheidung der Trinität und die Einheit der Kontingenzformel
Gott
Der Beitrag nimmt von seiten der Theologie mit Niklas Luhmann das
Gespräch über den Gottesbegriff in »Die Religion der Gesellschaft«
auf. Luhmann führt ihn in seiner Religionssoziologie als sogenannte
Kontingenzformel ein, mit der im Religionssystem die Paradoxien
des Codes bearbeitet werden. Mit Gott wird die Einheit der Unterscheidung
von Transzendenz und Immanenz vorgestellt. Hierzu greift Luhmann
auf Traditionen der philosophischen Gotteslehre zurück, die Gott
als jenseits der Unterscheidung von Unterscheidung und Nichtunterscheidung
denken. Der Gott der Luhmannschen Religionssoziologie ist als zeitlos
und jenseits der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz,
als letztlich differenzloser Letztsinn konzipiert. Auf die von Luhmann
beschriebene Krise des metaphysischen Gottesverständnisses reagierte
die Theologie des 20. Jahrhunderts verstärkt mit einem trinitätstheologischen
Denken. Darum argumentiert der Beitrag, daß für ein Denken, das
sich an einem trinitarisch differenzierten Gottesverständnis orientiert,
an den Extrempositionen des Unterscheidens nicht eine Einheit, sondern
eine Differenz steht. Diese Unterscheidung in Gott hat weitgehende
Implikationen für das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz.
Isolde Karle:
Funktionale Differenzierung und Exklusion als Herausforderung und
Chance für Religion und Kirche
Je nach Standpunkt wird beklagt oder begrüßt, dass die Kirche
in der modernen Gesellschaft an kulturellem Einfluss verloren hat.
Eine differenzierte Analyse im Anschluss an Niklas Luhmann zeigt
indes, dass die Rede vom schwindenden Einfluss der Kirche unscharf
und einseitig ist und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft
nicht nur Nachteile, sondern auch spezifische Chancen für Religion
und Kirche mit sich brachte und bringt. Dies wird im Hinblick auf
die Exklusionsproblematik besonders deutlich. Der Beitrag zeigt,
dass das Religionssystem aufgrund seiner gesellschaftlichen Sonderstellung
spezifische Möglichkeiten hat, den Exklusionseffekten der Gesellschaft
wirksam zu begegnen. Verschiedene Inklusionsformen der Kirche werden
vorgestellt und die besondere Sensibilität christlicher Programmatik
für die Differenz von Exklusion und Inklusion entfaltet.
Rudolf
Stichweh:
Weltreligion oder Weltreligionen?
Der Essay betrachtet Niklas Luhmanns "Die Religion der Gesellschaft"
unter dem Gesichtspunkt des Beitrags dieses Buches zur Theorie der
Weltgesellschaft. Entscheidend ist, daß Luhmann nicht bei der Diagnose
einer segmentären Differenzierung der Weltreligion in eine Vielzahl
von Glaubenssystemen stehenbleibt. Luhmann demonstriert vielmehr
eine zunehmende religiöse Varietät in der Weltgesellschaft der Gegenwart,
die auf abnehmende Bindungsfähigkeit religiöser Organisationen und
auf zunehmende Individualisierung der Verhaltenswahl zurückgeht.
Weil Religionen externe Kriterien der Evaluation ablehnen, "insulieren"
sie sich gegeneinander. Religiöse Dogmatik fungiert dabei als Differential,
das den Prozeß der Anpassung eines Glaubenssystems an sich selbst
steuert. Diversifizierung von Religion in der Weltgesellschaft ist
das Resultat dieser Konstellation.
Aufsätze:
Die empirische Reichweite und Erklärungskraft von Netzwerkmodellen
wird anhand verschiedener Anwendungsfeldern wie der Bildung sozialer
Bewegungen und neuronalen Netzen überprüft, um eine allgemeinen
Theorie des Verhaltens von Netzwerken zu skizzieren. Dabei stellt
sich heraus, daß Netzwerke einige gemeinsame Eigenschaften aufweisen,
z.B. Driftprozesse und eine Kern/Peripherie-Differenzierung. In
Kultur-Netzwerken besteht der Kern aus Institutionen, die für einen
gesunden Realismus zuständig sind, während in der Peripherie spielerisches
und experimentelles Verhalten möglich ist. "Systeme" sind dann vielleicht
ein Spezialfall von Netzwerken - nämlich solchen, die durch einen
hohen Grad von Geschlossenheit, Grenzbildung und Selbstbezüglichkeit
ausgezeichnet sind.
Thomas
Hermsen:
Die Kunst der Wirtschaft und die Wirtschaft der Kunst
Der Beitrag entwirft eine Skizze für die soziologische Rekonstruktion
des Wandels der Kunstförderung durch Wirtschaftsorganisationen im
Übergang zur Moderne. Es wird von der These ausgegangen, dass die
Veränderungen im Bereich der wirtschaftseigenen Gebrauchsweise im
Umgang mit Kunst mit der Form gesellschaftlicher Systemdifferenzierung
und mit den durch sie ausgelösten Komplexitätssteigerungen zusammenhängen.
Am Beispiel Deutschlands wird aufgezeigt, dass sich mit der Umstellung
der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung die Motive und
Bedingungen der Kunstförderung von Wirtschaftsorganisationen im
Übergang von der Unternehmerorganisation zur Unternehmensorganisation
gewandelt haben: von der Kommunikation von Bildung und Entscheidungsfähigkeit
hin zur Kommunikation von Multireferenz.
Der Text unterscheidet zwei Möglichkeiten, die gute Gesellschaft
von der bloßen Gesellschaft zu unterscheiden: Repräsentation und
Gegenrepräsentation. Von Repräsentation kann man sprechen, wenn
die gute Gesellschaft in Übereinstimmung mit der Differenzierungsform
des Gesellschaftssystems identifiziert wird. In genau diesem Sinne
hatte man, solange die Gesellschaft noch primär in Schichten differenziert
war, die Interaktion in den oberen Schichten als die eigentliche
und gute Gesellschaft bezeichnen können. Der Wechsel der Differenzierungsform
im Übergang zur modernen Gesellschaft läßt diese Möglichkeit zerfallen.
Die Gesellschaft ist nun primär in Funktionssysteme differenziert,
von denen keines mehr die Gesellschaft in der Gesellschaft und für
andere Funktionssysteme repräsentieren kann. Statt dessen wird die
gute Gesellschaft nun in der Distanz zu den Funktionssystemen, wenn
nicht im Protest gegen diese vermutet. Der Text verfolgt die Schwierigkeiten
dieses Wechsels von Repräsentation zu Gegenrepräsentation zunächst
an einigen frühmodernen Modellen für Interaktion unter Anwesenden
und sodann an den heutigen Protestbewegungen.
Dirk
Kretzschmar / Niels Werber:
Zwischen Globalisierung und Geopolitik. Regionale Beobachtungen
der Weltgesellschaft durch die politische Semantik am Beispiel der
USA und Russlands
Der Beitrag geht einer spezifischen Ausprägung der Differenz zwischen
Lokalem und Globalem in der Weltgesellschaft nach: Russland, die
USA und Deutschland werden als Regionen der Weltgesellschaft daraufhin
verglichen, welche differenten politischen Selbstbeschreibungen
sie aus dem Faktum der technischen, ökonomischen und kommunikativen
Globalisierung ableiten. Während hierzulande eine Semantik der Globalisierung
vorherrscht, die aus der (kommunikations-)technisch und logistisch
verfassten Weltgesellschaft einen allinklusiven und vor allem pazifizierten
Weltstaat hervorgehen sieht, der nur noch auf geeignete globale
Institutionen wartet, entsteht in Russland und den USA eine Konkurrenzsemantik
der Geopolitik, deren Paradigmen sich im globalen "Atopia" längst
überlebt haben müssten. Dort ist nicht nur weiterhin von den traditionellen
"souveränen Interessen" von Nationalstaaten oder ökonomischen Gründen
für gegenwärtige und zukünftige Konflikte die Rede, sondern zunehmend
auch von "kulturellen" Gegensätzen zwischen den Räumen und Territorien
der Weltgesellschaft.
Man hat es also gegenwärtig mit zwei Semantiken der Weltgesellschaft
zu tun, die beide auf der Beobachtung einer massenmedialen, technischen
und logistischen Totalerschließung der Welt basieren, aus diesem
Befund jedoch zu unterschiedlichen Prognosen gelangen: einer optimistischen
Semantik der globaler Unifizierung auf der einen, sowie einer eher
skeptischen Semantik künftiger Bruchlinienkonflikte auf der anderen
Seite.
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