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Hefte
SozSys 3 (1997), H.1
Zusammenfassungen

 

Zusammenfassungen

Michael Power:
From Risk Society to Audit Society

(Vollständiger Artikel)

Der Essay beschäftigt sich mit den Implikationen der zu beobachtenden Zunahme des Auditing in Großbritannien für Ulrich Becks Konzept der ‘Reflexiven Modernisierung’. Allgemein wird angenommen, daß die neue Form der Qualitätsprüfung Prozesse reflexiven Lernens in Organisationen ermöglicht, so daß eine Kompatibilität zwischen ökonomischen Kriterien und Regulierungszielen herstellbar ist. In der praktischen Umsetzung funktioniert Auditing als Teil einer Struktur der ‘Kontrolle der Kontrolle’, deren Möglichkeiten ambivalenter sind, als das Modell suggeriert. Trotzdem wird Auditing aufgrund ökonomischer Motive und Gründen der Informationsverarbeitung zu einem dominierenden Regulierungsstil. Die diskutierten Beispiele des Auditing im Gesundheitssystem, des Umwelt-Audits und des Derivatenmanagements legen nahe, daß Auditing sich stärker auf Prozesse des Managementsystems als auf das substantielle Operieren einer Organisation konzentriert. Diese Erkenntnis widerspricht der allgemeinen Erwartung an die Form der Selbstregulierung und hat unabsehbare Nebeneffekt. Die allgemein herausgestellten reflexiven Potentiale des Auditing sind zumindest noch nicht sichtbar, so daß das Aufkommen der Auditing-Gesellschaft eher mit Becks Konzept der ‘organisierten Unverantwortlichkeit’ beschreibbar ist.

Niklas Luhmann:
Selbstorganisation und Mikrodiversität: Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus

Die Entstehung und Entwicklung der modernen Gesellschaft hat zu individualistischen Ideologien geführt. Man hat dies erklärt als Folge zunehmender Rollendifferenzierung und zunehmender Mobilität der Individuen. Das soll hier nicht in Frage gestellt werden. Man kann aber an eine andere, zusätzliche Erklärung denken. Die Selbstorganisation der autonom gewordenen Funktionssysteme wie zum Beispiel Wirtschaft, Politik, Familien oder Wissenschaft erfordert neue Formen der Mikrodiversität auf der Ebene der Individuen. Das hat im 18. Jahrhundert zu einem Begriff der Population geführt, die verschiedenartige Individuen umfaßt. Im 19. Jahrhundert wird dann Population als Varietät gefaßt und damit zur Grundlage einer neuen Theorie der Evolution. Die Gesellschaft evoluiert, so nimmt man an, weil sie aus unterschiedlich geeigneten Individuen zusammengesetzt ist, die mehr oder weniger sozial-adäquate Karrieren durchlaufen.

Klaus Gilgenmann:
Kommunikation - ein Reißverschlußmodell

In diesem Beitrag wird ein Elementarmodell der Kommunikation vorgestellt, in dem die jeweilige Kommunikationstechnik nicht nur ein äußeres sondern ein konstitutives Moment der Beschreibung bildet. Damit wird versucht, an Niklas Luhmanns evolutions-theoretisches Programm anzuschließen, dessen Focussierung auf Kommunikation und Medienumbrüche der Gesellschaft innerhalb der Soziologie eher eine Ausnahme geblieben ist. Als evolutionärer Mechanismus der Variation wird die Differenzierung von Handeln und Erleben im Gebrauch technischer Kommunikationsmittel beschrieben, der ihre Verknüpfung durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmittel voraussetzt. Es wird modellhaft skizziert, wie Kommunikation sich in symbolischen Verknüpfungs- und technischen Entknüpfungsoperationen laufend erneuern und verändern kann.

Peter Fuchs:
Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie

Vorgeschlagen wird, in das Gefüge der soziologischen Systemtheorie den Grundbegriff „Adressabilität" einzuführen. Die grundlegende Vorstellung läuft darauf hinaus, daß Kommunikation, begriffen als autopoietische Einheit sozialer Systeme, genötigt ist, Zurechnungspunkte, Mitteilungsinstanzen, kurz: soziale „Adressen" zu entwerfen. Die Form der Adressenkonstruktion (Inklusion/Exklusion) wird analysiert mit Bezug auf die Formen gesellschaftlicher Differenzierung. Die These ist, daß die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in zunehmendem Maße zu polykontexturalen Adressen und womöglich zu polykontexturalem Bewußtsein führt. Es mag sein, daß das Hobbsche Problem sozialer Ordnung unter dieser neuen Verkettung von Umständen erneut diskutiert werden muß.

Nina Degele:
Zur Steuerung komplexer Systeme - eine soziokybernetische Reflexion

Die Bewältigung sozialer Komplexität ist nicht nur ein Leitthema der Systemtheorie, sondern vor allem der Soziokybernetik. Dabei haben sich zwei Richtungen herauskristallisiert, die bislang wenig voneinander Kenntnis nehmen: die konstruktivistische Soziokybernetik oder Kybernetik zweiter Ordnung und die von der General System Theory inspirierte Kybernetik IV. Sie erscheinen aufgrund ihrer unterschiedlichen soziologischen und systemtheoretischen Erdung als inkompatibel, erweisen sich in der Anwendung aber als durchaus komplementär. Die Unterschiedlichkeit der beiden Strömungen möchte ich als Ausdifferenzierung von „systemlogischer" und „systemdynamischer" Soziokybernetik rekonstruieren, womit ein je spezifisches Verständnis von Komplexität und Steuerung einhergeht. So verschieden sich die daraus abgeleiteten Konzepte der Kontextsteuerung und der dualen Kontrolle auf den ersten Blick präsentieren: am Beispiel der Steuerung soziotechnischer Systeme wird deutlich, daß sich die beiden Perspektiven sinnvoll ergänzen können – wenn man sie miteinander ins Ge-spräch bringt.

Sebastian Rinken:
Das Ereignis der Diagnose. Diagnose von HIV/AIDS als Krise der Selbstbeschreibung

Was geschieht mit einem Bewußtseinssystem, das als Ergebnis des HIV-Tests die Nachricht „positiv" erhält? Der Beitrag argumentiert, daß der Neuigkeitswert dieser Nachricht primär nicht im Bereich moralischer Konnotationen der wichtigsten Übertragungswege des Virus, sondern im Bereich der Lebenserwartung liegt. Die Vorstellung des eigenen nahen Todes aber löst eine Krise der Autopoiesis des Bewußtseins aus: die zur Beobachtung der Unterscheidung „positiv/negativ" eingesetzte Dichotomie „sterbend (so-gut-wie-tot)/lebendig" gerät ins Oszillieren, weil das System weder die Vorstellung des eigenen nahen Todes unvermittelt akzeptieren noch sich dem hergebrachten Vertrauen auf eine offene Zukunft einfach wieder überlassen kann. Die Herausbildung der Fähigkeit zur Beobachtung der Einheit von Leben und Sterbenmüssen aber erfordert Zeit. Zunächst führt der Versuch der Mobilisierung von Anschlußfähigkeit zur Verschlimmerung der Krise: die Oszillation greift über auf ein spezifisches, vor der Diagnose zur Strukturierung der Lebensführung verwendetes Element der Selbstbeschreibung. Dessen Restabilisierung ist die Voraussetzung dafür, die Tücken des All-tags mit relativer Gelassenheit bestehen zu können.

Rudolf Stichweh:
Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft

Exklusion meint in einer auf Kommunikation basierten Gesellschaft, daß jemand nicht mehr anhand der Unterscheidung von Information und Mitteilung beobachtet wird und daß er nicht mehr als eine Adresse für Kommunikationen (es sei denn jene, die den Akt der Exklusion vollziehen) in Frage kommt. Dieser Aufsatz klärt nicht diese grundbegriffliche Frage, sondern fragt nach dem Zusammenhang von Exklusion, funktionaler Differenzierung und dem auf der Basis globaler Funktionssysteme entstehenden System der Weltgesellschaft. Exklusion erweist sich in diesem Verständnis dann als ein multidimensionaler, kumulativer und sequentiell vernetzter Vorgang eines Ausschlusses aus einer Mehrzahl von Funktionssystemen. Diese Perspektive relativiert die Radikalität von Exklusion, aber sie macht zugleich eine prozessuale Analyse von Exklusionsvorgängen zugänglich. Während die Funktionssysteme heute ausnahmslos als globalisierte Funktionssysteme zu denken sind und es insofern auch nur noch eine Weltgesellschaft gibt, vertritt der Aufsatz die These, daß Exklusion immer auf der Basis regionaler Sonderbedingungen in Funktionssystemen und problematischer struktureller Kopp-lungen von Funktionssystemen zustande kommt. Insofern gibt es nicht eine Dopplung der Ge-sellschaft in der Form eines Exklusionsbereiches, sondern eine Vielzahl untereinander nicht vernetzter Exklusionsbereiche in Regionen der Weltgesellschaft.

Oliver Sill:
'Fiktionale Realität' vs. 'reale Realität'? Zu den kunst- bzw. literaturtheoretischen Reflexionen Niklas Luhmanns und Wolfgang Isers

Auch nach dem Erscheinen von Niklas Luhmanns „Die Kunst der Gesellschaft" (1995) hält die kontroverse Diskussion zentraler Elemente seiner Konzeption zum Sozialsystem Kunst an. Der Einbezug der literaturtheoretischen Reflexionen Wolfgang Isers bietet die Möglichkeit, einige Widersprüche und Ausblendungen der systemtheoretischen Konzeption in Form eines systematischen Ergänzungs- bzw. Reformulierungsvorschlags zu überwinden. Angesprochen sind damit der Fiktionsbegriff Luhmanns, seine operative Theorie künstlerischer Produktion und das bislang noch kaum berücksichtigte Problem der strukturellen Kopplung des Sozialsystems mit den beteiligten psychischen Systemen im Falle literarischer Kommunikation.

 

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