Der Essay beschäftigt sich mit den Implikationen der zu beobachtenden
Zunahme des Auditing in Großbritannien für Ulrich Becks Konzept
der Reflexiven Modernisierung. Allgemein wird angenommen,
daß die neue Form der Qualitätsprüfung Prozesse reflexiven Lernens
in Organisationen ermöglicht, so daß eine Kompatibilität zwischen
ökonomischen Kriterien und Regulierungszielen herstellbar ist. In
der praktischen Umsetzung funktioniert Auditing als Teil einer Struktur
der Kontrolle der Kontrolle, deren Möglichkeiten ambivalenter
sind, als das Modell suggeriert. Trotzdem wird Auditing aufgrund
ökonomischer Motive und Gründen der Informationsverarbeitung zu
einem dominierenden Regulierungsstil. Die diskutierten Beispiele
des Auditing im Gesundheitssystem, des Umwelt-Audits und des Derivatenmanagements
legen nahe, daß Auditing sich stärker auf Prozesse des Managementsystems
als auf das substantielle Operieren einer Organisation konzentriert.
Diese Erkenntnis widerspricht der allgemeinen Erwartung an die Form
der Selbstregulierung und hat unabsehbare Nebeneffekt. Die allgemein
herausgestellten reflexiven Potentiale des Auditing sind zumindest
noch nicht sichtbar, so daß das Aufkommen der Auditing-Gesellschaft
eher mit Becks Konzept der organisierten Unverantwortlichkeit
beschreibbar ist.
Niklas Luhmann:
Selbstorganisation und Mikrodiversität: Zur Wissenssoziologie des
neuzeitlichen Individualismus
Die Entstehung und Entwicklung der modernen Gesellschaft hat zu
individualistischen Ideologien geführt. Man hat dies erklärt als
Folge zunehmender Rollendifferenzierung und zunehmender Mobilität
der Individuen. Das soll hier nicht in Frage gestellt werden. Man
kann aber an eine andere, zusätzliche Erklärung denken. Die Selbstorganisation
der autonom gewordenen Funktionssysteme wie zum Beispiel Wirtschaft,
Politik, Familien oder Wissenschaft erfordert neue Formen der Mikrodiversität
auf der Ebene der Individuen. Das hat im 18. Jahrhundert zu einem
Begriff der Population geführt, die verschiedenartige Individuen
umfaßt. Im 19. Jahrhundert wird dann Population als Varietät gefaßt
und damit zur Grundlage einer neuen Theorie der Evolution. Die Gesellschaft
evoluiert, so nimmt man an, weil sie aus unterschiedlich geeigneten
Individuen zusammengesetzt ist, die mehr oder weniger sozial-adäquate
Karrieren durchlaufen.
Klaus Gilgenmann:
Kommunikation - ein Reißverschlußmodell
In diesem Beitrag wird ein Elementarmodell der Kommunikation vorgestellt,
in dem die jeweilige Kommunikationstechnik nicht nur ein äußeres
sondern ein konstitutives Moment der Beschreibung bildet. Damit
wird versucht, an Niklas Luhmanns evolutions-theoretisches Programm
anzuschließen, dessen Focussierung auf Kommunikation und Medienumbrüche
der Gesellschaft innerhalb der Soziologie eher eine Ausnahme geblieben
ist. Als evolutionärer Mechanismus der Variation wird die Differenzierung
von Handeln und Erleben im Gebrauch technischer Kommunikationsmittel
beschrieben, der ihre Verknüpfung durch symbolisch generalisierte
Kommunikationsmittel voraussetzt. Es wird modellhaft skizziert,
wie Kommunikation sich in symbolischen Verknüpfungs- und technischen
Entknüpfungsoperationen laufend erneuern und verändern kann.
Peter Fuchs:
Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie
Vorgeschlagen wird, in das Gefüge der soziologischen Systemtheorie
den Grundbegriff Adressabilität" einzuführen. Die grundlegende
Vorstellung läuft darauf hinaus, daß Kommunikation, begriffen als
autopoietische Einheit sozialer Systeme, genötigt ist, Zurechnungspunkte,
Mitteilungsinstanzen, kurz: soziale Adressen" zu entwerfen.
Die Form der Adressenkonstruktion (Inklusion/Exklusion) wird analysiert
mit Bezug auf die Formen gesellschaftlicher Differenzierung. Die
These ist, daß die funktionale Differenzierung der Gesellschaft
in zunehmendem Maße zu polykontexturalen Adressen und womöglich
zu polykontexturalem Bewußtsein führt. Es mag sein, daß das Hobbsche
Problem sozialer Ordnung unter dieser neuen Verkettung von Umständen
erneut diskutiert werden muß.
Nina Degele:
Zur Steuerung komplexer Systeme - eine soziokybernetische Reflexion
Die Bewältigung sozialer Komplexität ist nicht nur ein Leitthema
der Systemtheorie, sondern vor allem der Soziokybernetik. Dabei
haben sich zwei Richtungen herauskristallisiert, die bislang wenig
voneinander Kenntnis nehmen: die konstruktivistische Soziokybernetik
oder Kybernetik zweiter Ordnung und die von der General System Theory
inspirierte Kybernetik IV. Sie erscheinen aufgrund ihrer unterschiedlichen
soziologischen und systemtheoretischen Erdung als inkompatibel,
erweisen sich in der Anwendung aber als durchaus komplementär. Die
Unterschiedlichkeit der beiden Strömungen möchte ich als Ausdifferenzierung
von systemlogischer" und systemdynamischer"
Soziokybernetik rekonstruieren, womit ein je spezifisches Verständnis
von Komplexität und Steuerung einhergeht. So verschieden sich die
daraus abgeleiteten Konzepte der Kontextsteuerung und der dualen
Kontrolle auf den ersten Blick präsentieren: am Beispiel der Steuerung
soziotechnischer Systeme wird deutlich, daß sich die beiden Perspektiven
sinnvoll ergänzen können wenn man sie miteinander ins Ge-spräch
bringt.
Sebastian Rinken:
Das Ereignis der Diagnose. Diagnose von HIV/AIDS als Krise der Selbstbeschreibung
Was geschieht mit einem Bewußtseinssystem, das als Ergebnis des
HIV-Tests die Nachricht positiv" erhält? Der Beitrag
argumentiert, daß der Neuigkeitswert dieser Nachricht primär nicht
im Bereich moralischer Konnotationen der wichtigsten Übertragungswege
des Virus, sondern im Bereich der Lebenserwartung liegt. Die Vorstellung
des eigenen nahen Todes aber löst eine Krise der Autopoiesis des
Bewußtseins aus: die zur Beobachtung der Unterscheidung positiv/negativ"
eingesetzte Dichotomie sterbend (so-gut-wie-tot)/lebendig"
gerät ins Oszillieren, weil das System weder die Vorstellung des
eigenen nahen Todes unvermittelt akzeptieren noch sich dem hergebrachten
Vertrauen auf eine offene Zukunft einfach wieder überlassen kann.
Die Herausbildung der Fähigkeit zur Beobachtung der Einheit von
Leben und Sterbenmüssen aber erfordert Zeit. Zunächst führt der
Versuch der Mobilisierung von Anschlußfähigkeit zur Verschlimmerung
der Krise: die Oszillation greift über auf ein spezifisches, vor
der Diagnose zur Strukturierung der Lebensführung verwendetes Element
der Selbstbeschreibung. Dessen Restabilisierung ist die Voraussetzung
dafür, die Tücken des All-tags mit relativer Gelassenheit bestehen
zu können.
Rudolf Stichweh:
Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie
der Weltgesellschaft
Exklusion meint in einer auf Kommunikation basierten Gesellschaft,
daß jemand nicht mehr anhand der Unterscheidung von Information
und Mitteilung beobachtet wird und daß er nicht mehr als eine Adresse
für Kommunikationen (es sei denn jene, die den Akt der Exklusion
vollziehen) in Frage kommt. Dieser Aufsatz klärt nicht diese grundbegriffliche
Frage, sondern fragt nach dem Zusammenhang von Exklusion, funktionaler
Differenzierung und dem auf der Basis globaler Funktionssysteme
entstehenden System der Weltgesellschaft. Exklusion erweist sich
in diesem Verständnis dann als ein multidimensionaler, kumulativer
und sequentiell vernetzter Vorgang eines Ausschlusses aus einer
Mehrzahl von Funktionssystemen. Diese Perspektive relativiert die
Radikalität von Exklusion, aber sie macht zugleich eine prozessuale
Analyse von Exklusionsvorgängen zugänglich. Während die Funktionssysteme
heute ausnahmslos als globalisierte Funktionssysteme zu denken sind
und es insofern auch nur noch eine Weltgesellschaft gibt, vertritt
der Aufsatz die These, daß Exklusion immer auf der Basis regionaler
Sonderbedingungen in Funktionssystemen und problematischer struktureller
Kopp-lungen von Funktionssystemen zustande kommt. Insofern gibt
es nicht eine Dopplung der Ge-sellschaft in der Form eines Exklusionsbereiches,
sondern eine Vielzahl untereinander nicht vernetzter Exklusionsbereiche
in Regionen der Weltgesellschaft.
Oliver Sill:
'Fiktionale Realität' vs. 'reale Realität'? Zu den kunst- bzw. literaturtheoretischen
Reflexionen Niklas Luhmanns und Wolfgang Isers
Auch nach dem Erscheinen von Niklas Luhmanns Die Kunst der
Gesellschaft" (1995) hält die kontroverse Diskussion zentraler
Elemente seiner Konzeption zum Sozialsystem Kunst an. Der Einbezug
der literaturtheoretischen Reflexionen Wolfgang Isers bietet die
Möglichkeit, einige Widersprüche und Ausblendungen der systemtheoretischen
Konzeption in Form eines systematischen Ergänzungs- bzw. Reformulierungsvorschlags
zu überwinden. Angesprochen sind damit der Fiktionsbegriff Luhmanns,
seine operative Theorie künstlerischer Produktion und das bislang
noch kaum berücksichtigte Problem der strukturellen Kopplung des
Sozialsystems mit den beteiligten psychischen Systemen im Falle
literarischer Kommunikation.
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