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Editorial 3 (1997) H.2

 

Editorial 3 (1997) H.2

Diese Zeitschrift hat Niklas Luhmann für einen zentralen Teil ihres allgemeinen Programms (und inzwischen auch für mehrere Aufsatzbeiträge in den bisher publizierten Heften der Zeitschrift) zu danken. Zur Vorbereitung auf seinen siebzigsten Geburtstag haben wir daher eine größere Zahl von Kollegen gefragt, ob sie an einer ihm gewidmeten Festausgabe der Zeitschrift mitwirken möchten. Das vorliegende Heft enthält Beiträge, die aus einer ersten Welle von Rückmeldungen ausgewählt wurden. Weitere Texte, die derzeit in Aussicht stehen, wird man im kommenden Frühjahrsheft nachlesen können.
Die Frage nach der Einheit einer Festschrift ist immer prekär. Um sie zu beantworten, kann man entweder auf die thematische Einheit einer Fragestellung oder auf die metathematische Einheit einer Theorie verweisen. Beide Antworten müssen sich nicht ausschließen, fallen aber auch nicht automatisch zusammen. Wir haben zunächst versucht, einen thematisch integrierten Sammelband vorzulegen. Als Thema schwebte uns die Frage nach Folgeproblemen der funktionalen Differenzierung vor. Über die Exklusion einer sehr großen Anzahl von Menschen aus allen oder nahezu allen Teilnahmechancen der modernen Gesellschaft als eines dieser Folgeprobleme wird heute – und wird auch in diesem Heft – intensiv diskutiert. Andere Problemtitel von vergleichbarer Bedeutung könnten für die Sachdimension im Bereich der Ökologie und für die Zeitdimension im Bereich der Gefährlichkeit riskanten Entscheidens liegen.

Auf diese Pluralität von Folgeproblemen wird ein Beobachter mit Abstraktion reagieren müssen. An unsere Adressaten ging daher die zusätzliche Frage, ob die Problematik all dieser Probleme nicht wesentlich darin liegt, daß sie sich bei all ihrer unbestrittenen gesamtgesellschaftlichen, also universalen Relevanz nicht ausdifferenzieren, also spezialisieren und daher auch nicht einem und nur einem Funktionssystem für exklusive Bearbeitung zuweisen lassen. Damit fällt ein Hauptmechanismus der Erzeugung und Reproduktion anspruchsvoller Problemlösungen, nämlich die Bildung eines Funktionssystems, aus. Die Anschlußfrage wäre dann, ob eine Collage aus zweitbesten und drittbesten Lösungen, die sämtlich auf anderen Ebenen der Systembildung ansetzen, ausreichend sein wird – und für wie lange. Nicht zuletzt führen unzureichende Lösungen, die die Systemebene, die für sie verantwortlich gemacht werden kann – etwa Organisationen oder sich für allzuständig haltende Funktionssysteme –, überfordern, zum Auftreten von Protestbewegungen, die zwar das Problem besser markieren, aber auch nicht besser lösen.

Unsere Adressaten haben überwiegend zustimmend auf diese Fragestellung reagiert. Offensichtlich fallen jedoch Abstraktion und Vergleich schwerer, als wir angenommen hatten. Die Autoren wenden sich überwiegend einzelnen Folgeproblemen, einzelnen Funktionssystemen oder auch einer besonderen Optik der Wahrnehmung und Abarbeitung von Folgeproblemen zu. Man wird daraus auf den Stand des soziologischen Nachdenkens Rückschlüsse ziehen können. Die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion spielt naturgemäß eine große Rolle (in den Beiträgen von Peter Fuchs sowie von Armin Nassehi/Gerd Nollmann), aber auch Religion (Peter Beyer, Mark Chaves) und Moral (Hans-Joachim Giegel), ja sogar die Frage nach der Leistungsfähigkeit des europäischen Blickwinkels (Hans Bernhard Schmid), der Grenzen der Moderne (William Rasch), und der Beobachtung der funktionalen Differenzierung aus dem Blickwinkel der alteuropäischen Geselligkeit (Jürgen Fohrmann) und des alle möglichen Paradoxien auskostenden Antisemitismus (Dietrich Schwanitz) sind mögliche Zugangsweisen zu den unterschiedlichen Dimensionen des Problems. Schaut man sich an, wie sich die Theorie am Problem bewährt, bleiben die Fragen nach dem Wissen unseres Nichtwissens (Klaus P. Japp), nach der funktionalen Hybridisierung des Vertrags (Gunther Teubner) und der Leistungsfähigkeit des Systemgedankens (Loet Leydesdorff) ebenso wenig aus wie der Verdacht, daß es sich bei den Folgeproblemen der funktionalen Differenzierung letztlich vor allem um Reflexionsprobleme, also um ein unzureichendes Verständnis der modernen Gesellschaft (Elena Esposito) handelt.

Es entspricht dem Vorgehen des Soziologen, dem dieses Heft gewidmet ist und dem wir damit zu seinem siebzigsten Geburtstag gratulieren wollen, daß wir keine Lösungen der Folgeprobleme präsentieren können. Vielmehr müssen wird uns darauf beschränken, eine Beschreibung von ihnen zu erarbeiten, die das gesellschaftlich bereits gängige Wissen einerseits aufgreift und andererseits im Verweis auf eine Theorieperspektive, die Vergleichbarkeit aus Abstraktionen gewinnt, überbietet. An diesem einheitlichen Bezugspunkt der Luhmannschen Theorie selbst wird in allen Beiträgen festgehalten, gleichviel ob es den Autoren letztlich mehr um eine Weiterentwicklung der Theorie oder mehr um Theorievergleich, um Grundsatzkritik oder um das Ausprobieren von Alternativen geht. Vielleicht ist gerade dieses Beispiel für die Möglichkeit eines theoretisch abgestimmten Zugriffs trotz Themendivergenz eine angemessene Ehrung für einen Soziologen, dessen singuläre Leistung nicht zuletzt in der Bereitstellung einer facheinheitlichen Theorie liegt.
 
 
Die Herausgeber, September 1997

 

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